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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Vie württembergische Verfassungsreform

in 9. Juli dieses Jahres ist nach langen Verhandlungen und
Kämpfen in Stuttgart eine Reform des neunten Kapitels der
württembergischen Verfassung vom Jahre 1819 zustande ge¬
kommen, wodurch die ganze Zusammensetzung der Landstände in
der einschneidendsten Weise verändert wird. Der Zusammenhang
und der Hergang sind in der Kürze diese.

Das alte Württemberg der Grafen und Herzöge hat 1482 unter Mit¬
wirkung der Prälaten, der Ritter und der Landschaft durch den Münsinger
Vertrag eine einheitliche Verfassung erhalten, die 1513 unter der Regierung
des Herzogs Ulrich durch den Tübinger Vertrag weiter ausgebaut wurde. Die
Rechte des Landes wurden gegenüber herzoglicher Willkür mit starken Bürg¬
schaften umgeben und namentlich der Verschwendung der Landesgelder durch
fürstliche Prasserei ein wirksamer Riegel vorgeschoben; auch die Erhebung von
Krieg wurde an das Gutheißen der Stände gebunden. Der Landtag selbst
kam oft jahrzehntelang nicht zusammen; an seiner Stelle nahm ein engerer,
sich selbst erneuernder, ständischer Ausschuß von sechs Personen die Rechte der
..Landschaft" wahr, und das mit solcher Kraft, daß der englische Staatsmann
Fox geurteilt hat, Württemberg sei außer England das einzige Land, das eine
wirkliche Verfassung habe. Dem Landtage gehörten an die Prälaten der
vierzehn Mannsklöster (die auch nach Eintritt der Reformation 1534 als theo¬
logische Seminarien erhalten blieben) und die Abgeordneten der Städte und
der Ämter, die von den lebenslänglichen Gemeinderüten oder den Amtsver¬
sammlungen gewählt und folglich meist Bürgermeister (schwäbisch: Schult¬
heißen) waren. Die Selbständigkeit der "Landschaft" gegenüber den Herzögen
ging so weit, daß sie sich auch in der auswärtigen Politik betätigte, und gegen
das Ende des achtzehnten Jahrhunderts die "Landschaft" sogar ihren eignen
diplomatischen Vertreter in Paris, neben dem des Herzogs, unterhielt. Kein
Wunder, daß die Herzöge mit diesem Zustand unzufrieden waren und nach


Grenzboten III 1906 37


Vie württembergische Verfassungsreform

in 9. Juli dieses Jahres ist nach langen Verhandlungen und
Kämpfen in Stuttgart eine Reform des neunten Kapitels der
württembergischen Verfassung vom Jahre 1819 zustande ge¬
kommen, wodurch die ganze Zusammensetzung der Landstände in
der einschneidendsten Weise verändert wird. Der Zusammenhang
und der Hergang sind in der Kürze diese.

Das alte Württemberg der Grafen und Herzöge hat 1482 unter Mit¬
wirkung der Prälaten, der Ritter und der Landschaft durch den Münsinger
Vertrag eine einheitliche Verfassung erhalten, die 1513 unter der Regierung
des Herzogs Ulrich durch den Tübinger Vertrag weiter ausgebaut wurde. Die
Rechte des Landes wurden gegenüber herzoglicher Willkür mit starken Bürg¬
schaften umgeben und namentlich der Verschwendung der Landesgelder durch
fürstliche Prasserei ein wirksamer Riegel vorgeschoben; auch die Erhebung von
Krieg wurde an das Gutheißen der Stände gebunden. Der Landtag selbst
kam oft jahrzehntelang nicht zusammen; an seiner Stelle nahm ein engerer,
sich selbst erneuernder, ständischer Ausschuß von sechs Personen die Rechte der
..Landschaft" wahr, und das mit solcher Kraft, daß der englische Staatsmann
Fox geurteilt hat, Württemberg sei außer England das einzige Land, das eine
wirkliche Verfassung habe. Dem Landtage gehörten an die Prälaten der
vierzehn Mannsklöster (die auch nach Eintritt der Reformation 1534 als theo¬
logische Seminarien erhalten blieben) und die Abgeordneten der Städte und
der Ämter, die von den lebenslänglichen Gemeinderüten oder den Amtsver¬
sammlungen gewählt und folglich meist Bürgermeister (schwäbisch: Schult¬
heißen) waren. Die Selbständigkeit der „Landschaft" gegenüber den Herzögen
ging so weit, daß sie sich auch in der auswärtigen Politik betätigte, und gegen
das Ende des achtzehnten Jahrhunderts die „Landschaft" sogar ihren eignen
diplomatischen Vertreter in Paris, neben dem des Herzogs, unterhielt. Kein
Wunder, daß die Herzöge mit diesem Zustand unzufrieden waren und nach


Grenzboten III 1906 37
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[0289] [Abbildung] Vie württembergische Verfassungsreform in 9. Juli dieses Jahres ist nach langen Verhandlungen und Kämpfen in Stuttgart eine Reform des neunten Kapitels der württembergischen Verfassung vom Jahre 1819 zustande ge¬ kommen, wodurch die ganze Zusammensetzung der Landstände in der einschneidendsten Weise verändert wird. Der Zusammenhang und der Hergang sind in der Kürze diese. Das alte Württemberg der Grafen und Herzöge hat 1482 unter Mit¬ wirkung der Prälaten, der Ritter und der Landschaft durch den Münsinger Vertrag eine einheitliche Verfassung erhalten, die 1513 unter der Regierung des Herzogs Ulrich durch den Tübinger Vertrag weiter ausgebaut wurde. Die Rechte des Landes wurden gegenüber herzoglicher Willkür mit starken Bürg¬ schaften umgeben und namentlich der Verschwendung der Landesgelder durch fürstliche Prasserei ein wirksamer Riegel vorgeschoben; auch die Erhebung von Krieg wurde an das Gutheißen der Stände gebunden. Der Landtag selbst kam oft jahrzehntelang nicht zusammen; an seiner Stelle nahm ein engerer, sich selbst erneuernder, ständischer Ausschuß von sechs Personen die Rechte der ..Landschaft" wahr, und das mit solcher Kraft, daß der englische Staatsmann Fox geurteilt hat, Württemberg sei außer England das einzige Land, das eine wirkliche Verfassung habe. Dem Landtage gehörten an die Prälaten der vierzehn Mannsklöster (die auch nach Eintritt der Reformation 1534 als theo¬ logische Seminarien erhalten blieben) und die Abgeordneten der Städte und der Ämter, die von den lebenslänglichen Gemeinderüten oder den Amtsver¬ sammlungen gewählt und folglich meist Bürgermeister (schwäbisch: Schult¬ heißen) waren. Die Selbständigkeit der „Landschaft" gegenüber den Herzögen ging so weit, daß sie sich auch in der auswärtigen Politik betätigte, und gegen das Ende des achtzehnten Jahrhunderts die „Landschaft" sogar ihren eignen diplomatischen Vertreter in Paris, neben dem des Herzogs, unterhielt. Kein Wunder, daß die Herzöge mit diesem Zustand unzufrieden waren und nach Grenzboten III 1906 37

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/289>, abgerufen am 30.04.2024.