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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Vorgeschichte der französischen Revolution von ^739

über die Notwendigkeit aus, beide Kammern, namentlich aber die erste, zu
reformieren, und das Ergebnis liegt nunmehr vor unsern Augen. Gewiß
besteht jetzt die Gefahr, daß die zweite Kammer einen beträchtlichen sozialdemo¬
kratischen Einschlag erhält; der Neckarkreis und in zweiter Linie der Schwarz¬
waldkreis sind sehr stark industriell entwickelt, und der Grundbesitz ist vielfach
so zwerghaft, ein Hektar und weniger, daß diese Teile Württembergs vielleicht
noch ebensolche Hochburgen der Sozialdemokratie werden, wie das "rote König¬
reich" Sachsen es ist. Die nächst gewinnende Partei wird das ebenso wie
die Sozialdemokratie stramm organisierte Zentrum sein, und für den Verlust
der katholischen Mehrheit der ersten Kammer wird es zweifellos dadurch
größtenteils entschädigt werden, daß es in der um nur etwa vier katholische,
dagegen um achtzehn evangelische Stimmen (Ritter, Prälaten, Tübinger
Kanzler) geschwächten zweiten Kammer einen viel stärkern Einfluß erlangen
wird. Die Demokraten und die Liberalen werden Mühe haben, sich gegenüber
den beiden genannten Parteien zu behaupten, und nur die Bündler, an deren
Rockschöße sich die paar Konservativen hängen, werden auch starke Gewinne
machen. Bei diesen Aussichten für die zweite Kammer halten wir es für eine
ungemein wichtige Errungenschaft, daß die Reform zu einer wesentlichen
Stärkung der ersten Kammer geführt hat, die jetzt nach Zahl, Einsicht und
Besitz ein so ansehnliches Element des öffentlichen Lebens ist, daß sie mit
der zweiten Kammer in einen ganz andern Wettbewerb treten kann, als die
auf zu einseitiger und schmaler Grundlage aufgebaute frühere Kammer der
Standesherren es vermochte. Die Beratungen und die Beschlüsse der ersten
Kammer werden künftig ganz anders ins Gewicht fallen; sie wird ein wahrer
Senat des Königreichs sein, und heute schon kann man von sehr liberaler
Seite hören, daß es nun gelte, sich um die erste Kammer zu scharen und ihre
Stellung zu stärken, um den radikalen Einflüssen das unbedingt nötige Gegen¬
gewicht zu bieten.




Vorgeschichte der französischen Revolution von
Hermann Iaenicke von2

le französische Literatur der Aufklärung hat der Historiker natürlich
nur insoweit zu betrachten, als sie eben auf die öffentliche Meinung
Einfluß gewann. Da stehn schon unter der Negierung Ludwigs
des Vierzehnten obenan Fenelon, der, wenn auch maßvoll, so
doch unter großem Beifall vieler Gebildeten eine gesetzmäßig be¬
schränkte Monarchie forderte, und Bayle, der in seinem viotionnaM (1696),
dem Vorbilde der Enzyklopädien des achtzehnten Jahrhunderts, mit unge¬
heurer Gelehrsamkeit alles zersetzte und verhöhnte, was die Kirche als ver-


Grenzboten III 1906 38
Vorgeschichte der französischen Revolution von ^739

über die Notwendigkeit aus, beide Kammern, namentlich aber die erste, zu
reformieren, und das Ergebnis liegt nunmehr vor unsern Augen. Gewiß
besteht jetzt die Gefahr, daß die zweite Kammer einen beträchtlichen sozialdemo¬
kratischen Einschlag erhält; der Neckarkreis und in zweiter Linie der Schwarz¬
waldkreis sind sehr stark industriell entwickelt, und der Grundbesitz ist vielfach
so zwerghaft, ein Hektar und weniger, daß diese Teile Württembergs vielleicht
noch ebensolche Hochburgen der Sozialdemokratie werden, wie das „rote König¬
reich" Sachsen es ist. Die nächst gewinnende Partei wird das ebenso wie
die Sozialdemokratie stramm organisierte Zentrum sein, und für den Verlust
der katholischen Mehrheit der ersten Kammer wird es zweifellos dadurch
größtenteils entschädigt werden, daß es in der um nur etwa vier katholische,
dagegen um achtzehn evangelische Stimmen (Ritter, Prälaten, Tübinger
Kanzler) geschwächten zweiten Kammer einen viel stärkern Einfluß erlangen
wird. Die Demokraten und die Liberalen werden Mühe haben, sich gegenüber
den beiden genannten Parteien zu behaupten, und nur die Bündler, an deren
Rockschöße sich die paar Konservativen hängen, werden auch starke Gewinne
machen. Bei diesen Aussichten für die zweite Kammer halten wir es für eine
ungemein wichtige Errungenschaft, daß die Reform zu einer wesentlichen
Stärkung der ersten Kammer geführt hat, die jetzt nach Zahl, Einsicht und
Besitz ein so ansehnliches Element des öffentlichen Lebens ist, daß sie mit
der zweiten Kammer in einen ganz andern Wettbewerb treten kann, als die
auf zu einseitiger und schmaler Grundlage aufgebaute frühere Kammer der
Standesherren es vermochte. Die Beratungen und die Beschlüsse der ersten
Kammer werden künftig ganz anders ins Gewicht fallen; sie wird ein wahrer
Senat des Königreichs sein, und heute schon kann man von sehr liberaler
Seite hören, daß es nun gelte, sich um die erste Kammer zu scharen und ihre
Stellung zu stärken, um den radikalen Einflüssen das unbedingt nötige Gegen¬
gewicht zu bieten.




Vorgeschichte der französischen Revolution von
Hermann Iaenicke von2

le französische Literatur der Aufklärung hat der Historiker natürlich
nur insoweit zu betrachten, als sie eben auf die öffentliche Meinung
Einfluß gewann. Da stehn schon unter der Negierung Ludwigs
des Vierzehnten obenan Fenelon, der, wenn auch maßvoll, so
doch unter großem Beifall vieler Gebildeten eine gesetzmäßig be¬
schränkte Monarchie forderte, und Bayle, der in seinem viotionnaM (1696),
dem Vorbilde der Enzyklopädien des achtzehnten Jahrhunderts, mit unge¬
heurer Gelehrsamkeit alles zersetzte und verhöhnte, was die Kirche als ver-


Grenzboten III 1906 38
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[0297] Vorgeschichte der französischen Revolution von ^739 über die Notwendigkeit aus, beide Kammern, namentlich aber die erste, zu reformieren, und das Ergebnis liegt nunmehr vor unsern Augen. Gewiß besteht jetzt die Gefahr, daß die zweite Kammer einen beträchtlichen sozialdemo¬ kratischen Einschlag erhält; der Neckarkreis und in zweiter Linie der Schwarz¬ waldkreis sind sehr stark industriell entwickelt, und der Grundbesitz ist vielfach so zwerghaft, ein Hektar und weniger, daß diese Teile Württembergs vielleicht noch ebensolche Hochburgen der Sozialdemokratie werden, wie das „rote König¬ reich" Sachsen es ist. Die nächst gewinnende Partei wird das ebenso wie die Sozialdemokratie stramm organisierte Zentrum sein, und für den Verlust der katholischen Mehrheit der ersten Kammer wird es zweifellos dadurch größtenteils entschädigt werden, daß es in der um nur etwa vier katholische, dagegen um achtzehn evangelische Stimmen (Ritter, Prälaten, Tübinger Kanzler) geschwächten zweiten Kammer einen viel stärkern Einfluß erlangen wird. Die Demokraten und die Liberalen werden Mühe haben, sich gegenüber den beiden genannten Parteien zu behaupten, und nur die Bündler, an deren Rockschöße sich die paar Konservativen hängen, werden auch starke Gewinne machen. Bei diesen Aussichten für die zweite Kammer halten wir es für eine ungemein wichtige Errungenschaft, daß die Reform zu einer wesentlichen Stärkung der ersten Kammer geführt hat, die jetzt nach Zahl, Einsicht und Besitz ein so ansehnliches Element des öffentlichen Lebens ist, daß sie mit der zweiten Kammer in einen ganz andern Wettbewerb treten kann, als die auf zu einseitiger und schmaler Grundlage aufgebaute frühere Kammer der Standesherren es vermochte. Die Beratungen und die Beschlüsse der ersten Kammer werden künftig ganz anders ins Gewicht fallen; sie wird ein wahrer Senat des Königreichs sein, und heute schon kann man von sehr liberaler Seite hören, daß es nun gelte, sich um die erste Kammer zu scharen und ihre Stellung zu stärken, um den radikalen Einflüssen das unbedingt nötige Gegen¬ gewicht zu bieten. Vorgeschichte der französischen Revolution von Hermann Iaenicke von2 le französische Literatur der Aufklärung hat der Historiker natürlich nur insoweit zu betrachten, als sie eben auf die öffentliche Meinung Einfluß gewann. Da stehn schon unter der Negierung Ludwigs des Vierzehnten obenan Fenelon, der, wenn auch maßvoll, so doch unter großem Beifall vieler Gebildeten eine gesetzmäßig be¬ schränkte Monarchie forderte, und Bayle, der in seinem viotionnaM (1696), dem Vorbilde der Enzyklopädien des achtzehnten Jahrhunderts, mit unge¬ heurer Gelehrsamkeit alles zersetzte und verhöhnte, was die Kirche als ver- Grenzboten III 1906 38

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/297>, abgerufen am 30.04.2024.