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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Zur Ästhetik des Tragischen

KW! at es einen Sinn, im heutigen Lärm des Geschäfts, der Politik,
des Sports, der niedern Komik, der Riesenunglücksfälle und
Massenmorde, die als angenehme Sensation genossen werden, noch
von ästhetischen Dingen, zumal vom Tragischen*) zu sprechen?
!Nun, einige tausend Stille im Lande gibt es wohl noch, denen
tiefes Versenken in ein tragisches Menschenschicksal eine heilige Festfeier ist,
und deren Blick sich lieber auf das Schöne als auf das Häßliche, schmutzige,
Wüste und Verworrene richtet, und denen wird Volkelt ein lieber Führer
werden, soweit er es nicht schon geworden ist. Was er sagt über das Tragische
im Leben und in allen Künsten, über die Größe des tragischen Menschen,
über den schicksalsmäßiger Charakter und die pessimistische Grundstimmung des
Tragischen, über die tragische Schuld, das Tragische des Verbrechens, über
die den Helden bekämpfende Gegenmacht, die erhebenden Augenblicke im
tragischen Untergang, über das Tragische der befreienden und das der nieder¬
drückenden Art, über die tragische Situation, über das notwendig, das organisch
und das zufällig Tragische, das wird den Freunden der tragischen Muse zu
einem tiefern Verständnis ihrer alten Lieblinge verhelfen und ihren Genuß
im Umgange mit ihnen erhöhen. Volkelt erkennt die Verdienste der spekulativen
Ästhetik eines Hegel, Bischer, Hartmann um die Lösung des Problems des
Tragischen voll an, verwirft aber ihre Methode, die Forderungen, die man
an den Dichter zu stellen hat, aus vermeintlichen apriorischen Begriffen oder
Ideen abzuleiten, die beim Lichte besehen weiter nichts seien als Abstraktionen
von Mustern, zum Beispiel von den Tragödien der Alten, für die der Philosoph
voreingenommen ist. Volkelt will seine Theorie des Tragischen aus der Er¬
fahrung schöpfen, die Erfahrungstatsachen aber, von denen die Ästhetik aus-
zugehn habe, seien seelischer Natur, darum müsse auch bei der Untersuchung
des Tragischen psychologisch verfahren werden. Es komme hauptsächlich darauf
an, möglichst bedeutungsvolle ästhetische Gefühlstypen zu gewinnen. "Man
wird unter den mannigfaltigen Äußerungsweisen des ästhetisch erregten Gemüts
Umschau zu halten und dabei darauf zu achten haben, welche charakteristisch



*) Ästhetik des Tragischen von Johannes Volkelt, Professor der Philosophie an
der Universität Leipzig. Zweite, umgearbeitete Auflage. München, C. H. Beck, 1906. -- Das
Tragische als Gesetz des Weltorganismus von Ernst August Georg,). Berlin,
Albert Köhler, 190S.


Zur Ästhetik des Tragischen

KW! at es einen Sinn, im heutigen Lärm des Geschäfts, der Politik,
des Sports, der niedern Komik, der Riesenunglücksfälle und
Massenmorde, die als angenehme Sensation genossen werden, noch
von ästhetischen Dingen, zumal vom Tragischen*) zu sprechen?
!Nun, einige tausend Stille im Lande gibt es wohl noch, denen
tiefes Versenken in ein tragisches Menschenschicksal eine heilige Festfeier ist,
und deren Blick sich lieber auf das Schöne als auf das Häßliche, schmutzige,
Wüste und Verworrene richtet, und denen wird Volkelt ein lieber Führer
werden, soweit er es nicht schon geworden ist. Was er sagt über das Tragische
im Leben und in allen Künsten, über die Größe des tragischen Menschen,
über den schicksalsmäßiger Charakter und die pessimistische Grundstimmung des
Tragischen, über die tragische Schuld, das Tragische des Verbrechens, über
die den Helden bekämpfende Gegenmacht, die erhebenden Augenblicke im
tragischen Untergang, über das Tragische der befreienden und das der nieder¬
drückenden Art, über die tragische Situation, über das notwendig, das organisch
und das zufällig Tragische, das wird den Freunden der tragischen Muse zu
einem tiefern Verständnis ihrer alten Lieblinge verhelfen und ihren Genuß
im Umgange mit ihnen erhöhen. Volkelt erkennt die Verdienste der spekulativen
Ästhetik eines Hegel, Bischer, Hartmann um die Lösung des Problems des
Tragischen voll an, verwirft aber ihre Methode, die Forderungen, die man
an den Dichter zu stellen hat, aus vermeintlichen apriorischen Begriffen oder
Ideen abzuleiten, die beim Lichte besehen weiter nichts seien als Abstraktionen
von Mustern, zum Beispiel von den Tragödien der Alten, für die der Philosoph
voreingenommen ist. Volkelt will seine Theorie des Tragischen aus der Er¬
fahrung schöpfen, die Erfahrungstatsachen aber, von denen die Ästhetik aus-
zugehn habe, seien seelischer Natur, darum müsse auch bei der Untersuchung
des Tragischen psychologisch verfahren werden. Es komme hauptsächlich darauf
an, möglichst bedeutungsvolle ästhetische Gefühlstypen zu gewinnen. „Man
wird unter den mannigfaltigen Äußerungsweisen des ästhetisch erregten Gemüts
Umschau zu halten und dabei darauf zu achten haben, welche charakteristisch



*) Ästhetik des Tragischen von Johannes Volkelt, Professor der Philosophie an
der Universität Leipzig. Zweite, umgearbeitete Auflage. München, C. H. Beck, 1906. — Das
Tragische als Gesetz des Weltorganismus von Ernst August Georg,). Berlin,
Albert Köhler, 190S.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/348>, abgerufen am 30.04.2024.