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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Das türkische Schattentheater

sein zu steigern, unser Fühlen und Vorstellen auszuweiden und durch unsre be¬
ziehende Tätigkeit eine Welt als organische Einheit in uns aufzunehmen. Da ist
es nicht erst nötig, nachträglich eine Brücke von Subjekt zu Objekt zu schlagen, wie
die psychologische Ästhetik tut, indem sie den Gegenständen der Natur und Kunst
gerade die ästhetischen Normen abpreßt, die gewissen Tatsachen ^Forderungen?^
der menschlichen Seele entsprechen. Vielmehr jene Gegenstände und diese Psyche
haben das ihrige an demselben Orte zusammen empfangen. Sie können ohne nach¬
trägliche Konstruktion zueinander gelangen. Denn sie waren und sind beieinander^
solange die physisch-chemischen Prozesse der Natur das Substrat unsrer Triebe,,
unsre Triebe und Leidenschaften aber das Substrat unsrer geistigen Prozesse sind.
Aber! Nicht zu vergessen: die Eigenschaften des ästhetisch Wirksamen, des Gestalt¬
mäßigen waren infolge chemisch-physischer Vorgänge an gewissen Gegenständen Jahr¬
millionen für jvor?1 den Menschen da! Denn: kann sich der Sohn der Natur
eine Feierstunde durch Schauen und Bilden machen, so muß dies der großen Mutter,
ein deren Brüsten er seine Kräfte einsog, erst recht zugetraut werden. Nun: wir
sehen und spüren die Herrlichkeit ihrer Erscheinung! Aber ich meine, wir müssen
ihr zutrauen, etwas zu entwickeln, das über das nackte oder kahle Lebensbedürfnis
hinausgeht, oder des Lebens Notdurft so reich und doch gemessen zu geben, daß
ein Überflüssiges vorhanden ist, das trotzdem das Gepräge der Notwendigkeit keinen
Augenblick verliert.

O diese große Mutter, was wird ihr nicht alles zugetraut! Sonderbare
Leute, diese Monisten. Zuerst schlagen sie unsern Herrgott tot, und dann
konstruieren sie sich eine große Mutter, die gleich der ephesischen Diana viele
Brüste hat, an denen sie ihre Kindlein säugt, eine Natur, die vor den Moneren
und wahrscheinlich auch vor den Atomen da war und die Atome, Zellen,
Moneren mit den wunderbarsten Fähigkeiten ausgestattet hat; eine Künstlerin,
die schöne Gebilde hervorbringt, um sich damit Feierstunden des ästhetischen
Genusses zu bereiten, ungefähr so wie der Gott Dantes. Was nützt es nun, den
himmlischen Vater totzuschlagen, wenn man dafür die alte Mutter wieder kriegt,
die seit beinahe 1900 Jahren tot und begraben ist? S. 116 hat der Druck¬
f L. I- ehlerteufel aus Otto Ludwigs Erbförster einen Erbfürsten gemacht.




Das türkische Schattentheater
Hera. Z. Rehm von

WSWMN seinen Schattenspielen hat sich der Orient ein höchst eigenartig
entwickeltes volkstümliches Unterhaltungsmittel geschaffen, das im
I Geistesleben der Kulturvölker des Ostens bis auf den heutigen
WlMvv^Tag eine große Bedeutung hat. Wo die anmutige, aus phan-
und realisttschen Zügen seltsam gemischte Kunst des
Silhouettenspiels ihre Heimat hat, ob in Indien oder in einem andern der
großen asiatischen Reiche, darüber wird die Forschung wohl niemals zu völliger


Das türkische Schattentheater

sein zu steigern, unser Fühlen und Vorstellen auszuweiden und durch unsre be¬
ziehende Tätigkeit eine Welt als organische Einheit in uns aufzunehmen. Da ist
es nicht erst nötig, nachträglich eine Brücke von Subjekt zu Objekt zu schlagen, wie
die psychologische Ästhetik tut, indem sie den Gegenständen der Natur und Kunst
gerade die ästhetischen Normen abpreßt, die gewissen Tatsachen ^Forderungen?^
der menschlichen Seele entsprechen. Vielmehr jene Gegenstände und diese Psyche
haben das ihrige an demselben Orte zusammen empfangen. Sie können ohne nach¬
trägliche Konstruktion zueinander gelangen. Denn sie waren und sind beieinander^
solange die physisch-chemischen Prozesse der Natur das Substrat unsrer Triebe,,
unsre Triebe und Leidenschaften aber das Substrat unsrer geistigen Prozesse sind.
Aber! Nicht zu vergessen: die Eigenschaften des ästhetisch Wirksamen, des Gestalt¬
mäßigen waren infolge chemisch-physischer Vorgänge an gewissen Gegenständen Jahr¬
millionen für jvor?1 den Menschen da! Denn: kann sich der Sohn der Natur
eine Feierstunde durch Schauen und Bilden machen, so muß dies der großen Mutter,
ein deren Brüsten er seine Kräfte einsog, erst recht zugetraut werden. Nun: wir
sehen und spüren die Herrlichkeit ihrer Erscheinung! Aber ich meine, wir müssen
ihr zutrauen, etwas zu entwickeln, das über das nackte oder kahle Lebensbedürfnis
hinausgeht, oder des Lebens Notdurft so reich und doch gemessen zu geben, daß
ein Überflüssiges vorhanden ist, das trotzdem das Gepräge der Notwendigkeit keinen
Augenblick verliert.

O diese große Mutter, was wird ihr nicht alles zugetraut! Sonderbare
Leute, diese Monisten. Zuerst schlagen sie unsern Herrgott tot, und dann
konstruieren sie sich eine große Mutter, die gleich der ephesischen Diana viele
Brüste hat, an denen sie ihre Kindlein säugt, eine Natur, die vor den Moneren
und wahrscheinlich auch vor den Atomen da war und die Atome, Zellen,
Moneren mit den wunderbarsten Fähigkeiten ausgestattet hat; eine Künstlerin,
die schöne Gebilde hervorbringt, um sich damit Feierstunden des ästhetischen
Genusses zu bereiten, ungefähr so wie der Gott Dantes. Was nützt es nun, den
himmlischen Vater totzuschlagen, wenn man dafür die alte Mutter wieder kriegt,
die seit beinahe 1900 Jahren tot und begraben ist? S. 116 hat der Druck¬
f L. I- ehlerteufel aus Otto Ludwigs Erbförster einen Erbfürsten gemacht.




Das türkische Schattentheater
Hera. Z. Rehm von

WSWMN seinen Schattenspielen hat sich der Orient ein höchst eigenartig
entwickeltes volkstümliches Unterhaltungsmittel geschaffen, das im
I Geistesleben der Kulturvölker des Ostens bis auf den heutigen
WlMvv^Tag eine große Bedeutung hat. Wo die anmutige, aus phan-
und realisttschen Zügen seltsam gemischte Kunst des
Silhouettenspiels ihre Heimat hat, ob in Indien oder in einem andern der
großen asiatischen Reiche, darüber wird die Forschung wohl niemals zu völliger


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[0359] Das türkische Schattentheater sein zu steigern, unser Fühlen und Vorstellen auszuweiden und durch unsre be¬ ziehende Tätigkeit eine Welt als organische Einheit in uns aufzunehmen. Da ist es nicht erst nötig, nachträglich eine Brücke von Subjekt zu Objekt zu schlagen, wie die psychologische Ästhetik tut, indem sie den Gegenständen der Natur und Kunst gerade die ästhetischen Normen abpreßt, die gewissen Tatsachen ^Forderungen?^ der menschlichen Seele entsprechen. Vielmehr jene Gegenstände und diese Psyche haben das ihrige an demselben Orte zusammen empfangen. Sie können ohne nach¬ trägliche Konstruktion zueinander gelangen. Denn sie waren und sind beieinander^ solange die physisch-chemischen Prozesse der Natur das Substrat unsrer Triebe,, unsre Triebe und Leidenschaften aber das Substrat unsrer geistigen Prozesse sind. Aber! Nicht zu vergessen: die Eigenschaften des ästhetisch Wirksamen, des Gestalt¬ mäßigen waren infolge chemisch-physischer Vorgänge an gewissen Gegenständen Jahr¬ millionen für jvor?1 den Menschen da! Denn: kann sich der Sohn der Natur eine Feierstunde durch Schauen und Bilden machen, so muß dies der großen Mutter, ein deren Brüsten er seine Kräfte einsog, erst recht zugetraut werden. Nun: wir sehen und spüren die Herrlichkeit ihrer Erscheinung! Aber ich meine, wir müssen ihr zutrauen, etwas zu entwickeln, das über das nackte oder kahle Lebensbedürfnis hinausgeht, oder des Lebens Notdurft so reich und doch gemessen zu geben, daß ein Überflüssiges vorhanden ist, das trotzdem das Gepräge der Notwendigkeit keinen Augenblick verliert. O diese große Mutter, was wird ihr nicht alles zugetraut! Sonderbare Leute, diese Monisten. Zuerst schlagen sie unsern Herrgott tot, und dann konstruieren sie sich eine große Mutter, die gleich der ephesischen Diana viele Brüste hat, an denen sie ihre Kindlein säugt, eine Natur, die vor den Moneren und wahrscheinlich auch vor den Atomen da war und die Atome, Zellen, Moneren mit den wunderbarsten Fähigkeiten ausgestattet hat; eine Künstlerin, die schöne Gebilde hervorbringt, um sich damit Feierstunden des ästhetischen Genusses zu bereiten, ungefähr so wie der Gott Dantes. Was nützt es nun, den himmlischen Vater totzuschlagen, wenn man dafür die alte Mutter wieder kriegt, die seit beinahe 1900 Jahren tot und begraben ist? S. 116 hat der Druck¬ f L. I- ehlerteufel aus Otto Ludwigs Erbförster einen Erbfürsten gemacht. Das türkische Schattentheater Hera. Z. Rehm von WSWMN seinen Schattenspielen hat sich der Orient ein höchst eigenartig entwickeltes volkstümliches Unterhaltungsmittel geschaffen, das im I Geistesleben der Kulturvölker des Ostens bis auf den heutigen WlMvv^Tag eine große Bedeutung hat. Wo die anmutige, aus phan- und realisttschen Zügen seltsam gemischte Kunst des Silhouettenspiels ihre Heimat hat, ob in Indien oder in einem andern der großen asiatischen Reiche, darüber wird die Forschung wohl niemals zu völliger

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/359>, abgerufen am 30.04.2024.