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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Deutscher Unterricht und deutsche Sichtung

auf die vollwertige Münze Wappen oder Jnsiegel eines andern Münzberechtigten
Prägt. Wer die gefälschte Münze, mit der er selbst betrogen worden ist, vor¬
sätzlich weiter gibt, soll nach Befinden mit dem Schwert oder auch milder ge¬
straft werden. Das gilt auch von dem Abfeilen und Beschneiden echter voll¬
wertiger und überwertiger Münzen.




Deutscher Unterricht und deutsche Dichtung
Alfred Biese i vonn

u den mannigfachen Errungenschaften, die in den letzten Jahr¬
zehnten für die höhern Schulen erkämpft wurden, gehört auch
die wachsende Würdigung und Pflege des deutschen Unterrichts.
Die Phrase mancher Philologen, Griechisch und Lateinisch -- mit
ihren dreizehn Stunden in der Woche! -- bildeten das Rückgrat
des humanistischen Gymnasiums, hat ihre Zugkraft verloren; der deutsche
Unterricht soll das Herz bilden, von dem alles Blut ausströmt und zu dem
alles Blut hinströmt; ist doch jede fremdsprachliche Stunde auch eine deutsche
Stunde, und ist doch das Deutsche vor allem das gemeinsame Band, das alle
verschiednen Schulgattungen verbindet, mag es sich nun mit der antiken Geistes¬
kultur oder mit der modernen verflechten. Mit dem Erwachen des nationalen
Gedankens nach der Gründung des Reichs ergab sich mit geschichtlicher Not¬
wendigkeit die Forderung, auf deutschen Schulen das Deutsche in den Vorder¬
grund zu rücken. Kein Lehrgegenstand jedoch ist der Oberflächlichkeit und der
Phrase, der Nüchternheit und der Verballhornung mehr ausgesetzt als das
Deutsche. Gute Lehrer, d. h. geborne Unterrichtsmeister und Unterrichtskünstler,
im Gegensatze zu den Abrichtungsvirtuosen, den Drillmaschinen und Stunden¬
gebern, sind natürlich ebenso selten wie die Meister auf andern Gebieten des
Wissens und des Könnens. Freilich scheint nichts leichter zu sein als eine deutsche
Unterrichtsstunde; die Jungen können ja Deutsch lesen und Deutsch sprechen,
und dem Lehrer macht es keine Mühe, einige Fragen an jeden Satz, der gelesen
wird, anzuknüpfen; auch ist ja nichts leichter, als ein paar Gedichte abzuhören
und einige Bemerkungen daran anzuschließen: es ergibt sich ein behagliches
Geplauder, und die Stunde ist herum. Aber damit ist es wahrlich nicht getan.
Von einem Deutschlehrer muß man nicht nur festes philologisches Wissen
und sicheres pädagogisches Können, sondern auch Geschmack und Urteil fordern,
eine gewisse künstlerische Gabe des Nachempfindens und des Nachgestaltens; nun
ist aber bekanntlich die Kunst des Aufnehmens fast ebenso selten wie die des
Schaffens; ein tieferes Verständnis für Lyrik und die Fähigkeit, den Gedanken
und Stimmungen, die durch sie ausgelöst werden, Ausdruck zu leihen, ist nicht


Deutscher Unterricht und deutsche Sichtung

auf die vollwertige Münze Wappen oder Jnsiegel eines andern Münzberechtigten
Prägt. Wer die gefälschte Münze, mit der er selbst betrogen worden ist, vor¬
sätzlich weiter gibt, soll nach Befinden mit dem Schwert oder auch milder ge¬
straft werden. Das gilt auch von dem Abfeilen und Beschneiden echter voll¬
wertiger und überwertiger Münzen.




Deutscher Unterricht und deutsche Dichtung
Alfred Biese i vonn

u den mannigfachen Errungenschaften, die in den letzten Jahr¬
zehnten für die höhern Schulen erkämpft wurden, gehört auch
die wachsende Würdigung und Pflege des deutschen Unterrichts.
Die Phrase mancher Philologen, Griechisch und Lateinisch — mit
ihren dreizehn Stunden in der Woche! — bildeten das Rückgrat
des humanistischen Gymnasiums, hat ihre Zugkraft verloren; der deutsche
Unterricht soll das Herz bilden, von dem alles Blut ausströmt und zu dem
alles Blut hinströmt; ist doch jede fremdsprachliche Stunde auch eine deutsche
Stunde, und ist doch das Deutsche vor allem das gemeinsame Band, das alle
verschiednen Schulgattungen verbindet, mag es sich nun mit der antiken Geistes¬
kultur oder mit der modernen verflechten. Mit dem Erwachen des nationalen
Gedankens nach der Gründung des Reichs ergab sich mit geschichtlicher Not¬
wendigkeit die Forderung, auf deutschen Schulen das Deutsche in den Vorder¬
grund zu rücken. Kein Lehrgegenstand jedoch ist der Oberflächlichkeit und der
Phrase, der Nüchternheit und der Verballhornung mehr ausgesetzt als das
Deutsche. Gute Lehrer, d. h. geborne Unterrichtsmeister und Unterrichtskünstler,
im Gegensatze zu den Abrichtungsvirtuosen, den Drillmaschinen und Stunden¬
gebern, sind natürlich ebenso selten wie die Meister auf andern Gebieten des
Wissens und des Könnens. Freilich scheint nichts leichter zu sein als eine deutsche
Unterrichtsstunde; die Jungen können ja Deutsch lesen und Deutsch sprechen,
und dem Lehrer macht es keine Mühe, einige Fragen an jeden Satz, der gelesen
wird, anzuknüpfen; auch ist ja nichts leichter, als ein paar Gedichte abzuhören
und einige Bemerkungen daran anzuschließen: es ergibt sich ein behagliches
Geplauder, und die Stunde ist herum. Aber damit ist es wahrlich nicht getan.
Von einem Deutschlehrer muß man nicht nur festes philologisches Wissen
und sicheres pädagogisches Können, sondern auch Geschmack und Urteil fordern,
eine gewisse künstlerische Gabe des Nachempfindens und des Nachgestaltens; nun
ist aber bekanntlich die Kunst des Aufnehmens fast ebenso selten wie die des
Schaffens; ein tieferes Verständnis für Lyrik und die Fähigkeit, den Gedanken
und Stimmungen, die durch sie ausgelöst werden, Ausdruck zu leihen, ist nicht


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[0413] Deutscher Unterricht und deutsche Sichtung auf die vollwertige Münze Wappen oder Jnsiegel eines andern Münzberechtigten Prägt. Wer die gefälschte Münze, mit der er selbst betrogen worden ist, vor¬ sätzlich weiter gibt, soll nach Befinden mit dem Schwert oder auch milder ge¬ straft werden. Das gilt auch von dem Abfeilen und Beschneiden echter voll¬ wertiger und überwertiger Münzen. Deutscher Unterricht und deutsche Dichtung Alfred Biese i vonn u den mannigfachen Errungenschaften, die in den letzten Jahr¬ zehnten für die höhern Schulen erkämpft wurden, gehört auch die wachsende Würdigung und Pflege des deutschen Unterrichts. Die Phrase mancher Philologen, Griechisch und Lateinisch — mit ihren dreizehn Stunden in der Woche! — bildeten das Rückgrat des humanistischen Gymnasiums, hat ihre Zugkraft verloren; der deutsche Unterricht soll das Herz bilden, von dem alles Blut ausströmt und zu dem alles Blut hinströmt; ist doch jede fremdsprachliche Stunde auch eine deutsche Stunde, und ist doch das Deutsche vor allem das gemeinsame Band, das alle verschiednen Schulgattungen verbindet, mag es sich nun mit der antiken Geistes¬ kultur oder mit der modernen verflechten. Mit dem Erwachen des nationalen Gedankens nach der Gründung des Reichs ergab sich mit geschichtlicher Not¬ wendigkeit die Forderung, auf deutschen Schulen das Deutsche in den Vorder¬ grund zu rücken. Kein Lehrgegenstand jedoch ist der Oberflächlichkeit und der Phrase, der Nüchternheit und der Verballhornung mehr ausgesetzt als das Deutsche. Gute Lehrer, d. h. geborne Unterrichtsmeister und Unterrichtskünstler, im Gegensatze zu den Abrichtungsvirtuosen, den Drillmaschinen und Stunden¬ gebern, sind natürlich ebenso selten wie die Meister auf andern Gebieten des Wissens und des Könnens. Freilich scheint nichts leichter zu sein als eine deutsche Unterrichtsstunde; die Jungen können ja Deutsch lesen und Deutsch sprechen, und dem Lehrer macht es keine Mühe, einige Fragen an jeden Satz, der gelesen wird, anzuknüpfen; auch ist ja nichts leichter, als ein paar Gedichte abzuhören und einige Bemerkungen daran anzuschließen: es ergibt sich ein behagliches Geplauder, und die Stunde ist herum. Aber damit ist es wahrlich nicht getan. Von einem Deutschlehrer muß man nicht nur festes philologisches Wissen und sicheres pädagogisches Können, sondern auch Geschmack und Urteil fordern, eine gewisse künstlerische Gabe des Nachempfindens und des Nachgestaltens; nun ist aber bekanntlich die Kunst des Aufnehmens fast ebenso selten wie die des Schaffens; ein tieferes Verständnis für Lyrik und die Fähigkeit, den Gedanken und Stimmungen, die durch sie ausgelöst werden, Ausdruck zu leihen, ist nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/413>, abgerufen am 30.04.2024.