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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Christliche Liebestätigkeit

beobachten können, durch die Wucht der Tatsachen von der Bedeutung der
Werktätigen Nächstenliebe überführt worden sind, und vielleicht auch daher,
daß sie allzu gut wissen: wenn sie sich an den Instinkt der Menschen wenden,
wie es ja Haeckel reichlich tut, so dürfen sie sich in der heutigen Zeit nicht
gegen die werktätige Nächstenliebe wenden. So beweist also diese Seite des
Christentums ihre Macht auch über die Gemüter derer, die man für dem
Christentum ganz fernstehend halten möchte, wenn nicht die Heftigkeit und
Gehässigkeit ihrer Angriffe anzeigte, daß sie auch sonst vom Christentum ge¬
troffen worden sind. Fragen möchte man aber wohl, ob auch ein Leser des
Haeckelschen Buches, das in der Erregung sinnlicher Triebe und in der
Schmähung des Heiligen wenigstens für jugendliche Gemüter großes leistet,
durch das Buch zur werktätigen Nächstenliebe angeregt worden sei. Der
Beweis aber ist geschichtlich unanfechtbar gewiß, daß die Volks- und welt¬
bewegenden Errungenschaften der Liebestätigkeit, wie wir sie vor uns haben,
aus dem christlichen Glauben geboren sind.

Das ist erreicht.

Aber wenn wir nun dankbar und gehobnen Herzens auf das Erreichte
sehen, so fühlen wir auch, daß uns damit große Aufgaben für die Gegenwart
gestellt sind. Darum beantworten wir die zweite Frage:


2. Welche Lehren und welche Aufgaben christlicher LiebestÄtigkeit ergeben sich
aus dem Erreichten für die Gegenwart?

Alles Erreichte kann, wie es durch Liebe geschaffen ist, nur durch Liebe
erhalten und vollendet werden. Es gilt also für uns. die wir diese geschicht¬
liche Grundlage hinter uns haben, erst recht nicht auszuruhen, sondern Liebe
zu üben.

Ich möchte da wohl erinnern an drei Beispiele, die Amalie Sieveking
erzählt: "Eine Dame von gewiß nicht schwachem Verstände beglückwünschte
mich zu meinem Buch (das den Beruf der Frauen und jungen Mädchen zur
Liebestütigkeit darlegt) und versicherte, lange nichts gelesen zu haben, was
sie so sehr erbaute. Und dieselbe Dame versagte ihrer Tochter die Erlaubnis,
gelegentlich einem armen Manne vorzulesen! -- Eine meiner Schülerinnen
trägt ernstliches Verlangen nach andrer Beschäftigung als Handarbeiten, welche
jetzt den größten Teil ihrer Zeit ausfüllen. Es bietet sich ihr eine günstige
Gelegenheit dar: sie kann im elterlichen Hause bleiben und nur viermal
wöchentlich beim Unterricht helfen, wobei ihr noch überflüssig Zeit bleibt für
ihre kleinen häuslichen Pflichten; die Aussicht beglückt sie lebhaft, ihre eigne
Mutter erklärt, nichts besseres für sie wünschen zu können, da sie selber drei
erwachsene Töchter kaum zu beschäftigen weiß, und dennoch ist der ganze Plan
gescheitert an dem hartnäckigen Widerstande des Vaters, der den Gedanken, daß
sein Kind sich an eine geregelte Wirksamkeit außer dem Hause binden soll,


Christliche Liebestätigkeit

beobachten können, durch die Wucht der Tatsachen von der Bedeutung der
Werktätigen Nächstenliebe überführt worden sind, und vielleicht auch daher,
daß sie allzu gut wissen: wenn sie sich an den Instinkt der Menschen wenden,
wie es ja Haeckel reichlich tut, so dürfen sie sich in der heutigen Zeit nicht
gegen die werktätige Nächstenliebe wenden. So beweist also diese Seite des
Christentums ihre Macht auch über die Gemüter derer, die man für dem
Christentum ganz fernstehend halten möchte, wenn nicht die Heftigkeit und
Gehässigkeit ihrer Angriffe anzeigte, daß sie auch sonst vom Christentum ge¬
troffen worden sind. Fragen möchte man aber wohl, ob auch ein Leser des
Haeckelschen Buches, das in der Erregung sinnlicher Triebe und in der
Schmähung des Heiligen wenigstens für jugendliche Gemüter großes leistet,
durch das Buch zur werktätigen Nächstenliebe angeregt worden sei. Der
Beweis aber ist geschichtlich unanfechtbar gewiß, daß die Volks- und welt¬
bewegenden Errungenschaften der Liebestätigkeit, wie wir sie vor uns haben,
aus dem christlichen Glauben geboren sind.

Das ist erreicht.

Aber wenn wir nun dankbar und gehobnen Herzens auf das Erreichte
sehen, so fühlen wir auch, daß uns damit große Aufgaben für die Gegenwart
gestellt sind. Darum beantworten wir die zweite Frage:


2. Welche Lehren und welche Aufgaben christlicher LiebestÄtigkeit ergeben sich
aus dem Erreichten für die Gegenwart?

Alles Erreichte kann, wie es durch Liebe geschaffen ist, nur durch Liebe
erhalten und vollendet werden. Es gilt also für uns. die wir diese geschicht¬
liche Grundlage hinter uns haben, erst recht nicht auszuruhen, sondern Liebe
zu üben.

Ich möchte da wohl erinnern an drei Beispiele, die Amalie Sieveking
erzählt: „Eine Dame von gewiß nicht schwachem Verstände beglückwünschte
mich zu meinem Buch (das den Beruf der Frauen und jungen Mädchen zur
Liebestütigkeit darlegt) und versicherte, lange nichts gelesen zu haben, was
sie so sehr erbaute. Und dieselbe Dame versagte ihrer Tochter die Erlaubnis,
gelegentlich einem armen Manne vorzulesen! — Eine meiner Schülerinnen
trägt ernstliches Verlangen nach andrer Beschäftigung als Handarbeiten, welche
jetzt den größten Teil ihrer Zeit ausfüllen. Es bietet sich ihr eine günstige
Gelegenheit dar: sie kann im elterlichen Hause bleiben und nur viermal
wöchentlich beim Unterricht helfen, wobei ihr noch überflüssig Zeit bleibt für
ihre kleinen häuslichen Pflichten; die Aussicht beglückt sie lebhaft, ihre eigne
Mutter erklärt, nichts besseres für sie wünschen zu können, da sie selber drei
erwachsene Töchter kaum zu beschäftigen weiß, und dennoch ist der ganze Plan
gescheitert an dem hartnäckigen Widerstande des Vaters, der den Gedanken, daß
sein Kind sich an eine geregelte Wirksamkeit außer dem Hause binden soll,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/615>, abgerufen am 30.04.2024.