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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Volkskunde und Volksleben
l Karl Spieß i voln

lume man eine gute volkstümliche Sammclarbeit zur Hemd und
sucht sich einen Überblick zu verschaffen über alles, was das
Volksleben an Gestaltungen und Formen seit alters hervorgebracht
hat, dann ist der erste Eindruck der eines fast unübersehbaren
Reichtums. Welche Lebenskraft, welches Gestaltungsvermögen,
welcher schöpferische Reichtum an Ausdrucksmitteln für alle Beziehungen des
Lebens, die äußerlichsten und die innerlichsten; welche Sinnigkeit, welcher Humor,
wieviel sittliche Kraft steckt hinter diesen Formen volkstümlichen Lebens, und
wieviel charaktervolle Art, urwüchsiges Selbstbewußtsein und bodenständige Kraft
spricht ans ihnen! Und dabei kann auch die vollständigste Sammlung nnr
einen Teil von dem wiedergeben, was je lebendig war. Vieles ist unter¬
gegangen, sei es durch die Verständnislosigteit der Kirche, die die Äußerungen
des volkstümlichen Lebens als heidnisch zu vernichten suchte und in ungezählten
Fällen leider auch ihren Zweck erreicht hat, oder durch die Bestimmungen welt¬
licher Behörden"') und Herren, die jede Äußerung bäuerlicher Selbständigkeit
scheel ansahen und das charaktervolle Selbstbewußtsein zu brechen suchten, und
wieder mit Erfolg. Die tiefgreifenden Veränderungen politischer Natur, die
auch das ländliche Leben nicht unberührt ließen, wirtschaftliche Vorgänge, Ent¬
wicklungen in der Betriebsweise taten dann noch ein übriges, indem sie dem
Volkstum den Nährboden entzogen. Was noch lebendig war, verdorrte, ver¬
welkte, verkümmerte, erstarrte. Und wenn uns nicht in der Literatur, in den
volksmüßigen Weistümeru und ähnlichen schöpferischen Erzeugnissen des Volks-
tums, in Volkslied, Sagen und Märchen, Gut von höchstem Alter, oft nur
dnrch einen glücklichen Zufall erhalten geblieben wäre, ans dem, was im Volke
selbst noch lebt, ja was auch nur als unverstandnes, versteinertes Erbe der
Vergangenheit mitgeschleppt wird wie Geröll im Flußbett, könnten wir nur ein
sehr verschwommnes und undeutliches Bild gewinnen von dem Reichtum des
Lebens, das früher diese Formen ausfüllte.

Und der Verfall geht weiter, er scheint unaufhaltsam. Die Volkstracht
verschwindet, die Mundarten sind in starkem Rückgang begriffen; die Formen



Ich erinnere nur, um die allemcuste Tat behördlicher Weisheit zu erwähnen, an das
Verbot, den blauen Kittel bei jcontrollversmuinlungen und vor Gericht zu tragen, das in West¬
falen so viel böses Blut macht.


Volkskunde und Volksleben
l Karl Spieß i voln

lume man eine gute volkstümliche Sammclarbeit zur Hemd und
sucht sich einen Überblick zu verschaffen über alles, was das
Volksleben an Gestaltungen und Formen seit alters hervorgebracht
hat, dann ist der erste Eindruck der eines fast unübersehbaren
Reichtums. Welche Lebenskraft, welches Gestaltungsvermögen,
welcher schöpferische Reichtum an Ausdrucksmitteln für alle Beziehungen des
Lebens, die äußerlichsten und die innerlichsten; welche Sinnigkeit, welcher Humor,
wieviel sittliche Kraft steckt hinter diesen Formen volkstümlichen Lebens, und
wieviel charaktervolle Art, urwüchsiges Selbstbewußtsein und bodenständige Kraft
spricht ans ihnen! Und dabei kann auch die vollständigste Sammlung nnr
einen Teil von dem wiedergeben, was je lebendig war. Vieles ist unter¬
gegangen, sei es durch die Verständnislosigteit der Kirche, die die Äußerungen
des volkstümlichen Lebens als heidnisch zu vernichten suchte und in ungezählten
Fällen leider auch ihren Zweck erreicht hat, oder durch die Bestimmungen welt¬
licher Behörden"') und Herren, die jede Äußerung bäuerlicher Selbständigkeit
scheel ansahen und das charaktervolle Selbstbewußtsein zu brechen suchten, und
wieder mit Erfolg. Die tiefgreifenden Veränderungen politischer Natur, die
auch das ländliche Leben nicht unberührt ließen, wirtschaftliche Vorgänge, Ent¬
wicklungen in der Betriebsweise taten dann noch ein übriges, indem sie dem
Volkstum den Nährboden entzogen. Was noch lebendig war, verdorrte, ver¬
welkte, verkümmerte, erstarrte. Und wenn uns nicht in der Literatur, in den
volksmüßigen Weistümeru und ähnlichen schöpferischen Erzeugnissen des Volks-
tums, in Volkslied, Sagen und Märchen, Gut von höchstem Alter, oft nur
dnrch einen glücklichen Zufall erhalten geblieben wäre, ans dem, was im Volke
selbst noch lebt, ja was auch nur als unverstandnes, versteinertes Erbe der
Vergangenheit mitgeschleppt wird wie Geröll im Flußbett, könnten wir nur ein
sehr verschwommnes und undeutliches Bild gewinnen von dem Reichtum des
Lebens, das früher diese Formen ausfüllte.

Und der Verfall geht weiter, er scheint unaufhaltsam. Die Volkstracht
verschwindet, die Mundarten sind in starkem Rückgang begriffen; die Formen



Ich erinnere nur, um die allemcuste Tat behördlicher Weisheit zu erwähnen, an das
Verbot, den blauen Kittel bei jcontrollversmuinlungen und vor Gericht zu tragen, das in West¬
falen so viel böses Blut macht.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/678>, abgerufen am 30.04.2024.