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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Russisch": Bauernhochzeit

ist sie nüchtern und praktisch wie das Leben selbst und darf auch hoffen, auf
das Leben Einfluß zu gewinnen.

Heinrich Svhnrey. dem die Pflege des Volkstums so viel verdankt, sagt in
seinem "Wegweiser für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege" (Berlin, 1900):
"Bei den einzelnen Versuchen, welche hier und da in bester Absicht zur Neu¬
belebung des Volkstums gemacht sind, z. V. durch die Vereine zur Erhaltung
der Volkstrachten, ist man insofern in einem schweren Irrtum befangen, als
man das Volksleben von einem einzelnen äußern Bestandteil aus glaubt wieder¬
beleben zu können und annimmt, daß es darauf ankäme, diesen Bestandteil genau
so zu erhalten, wie er einstmals war. Wollen wir einen kranken Baum wieder
gesund machen, so würde es wohl niemand einfallen, beim Wipfel oder einem
einzelnen Zweige anzufangen, sondern wir suchen ihn vor allem am Wurzel-
bvden zu behandeln, und gelingt es uns, ihn von der Wurzel aufwärts gesund
zu machen, so werden die Zweige hernach ganz von selbst wieder grünen und
blühen. So muß auch das Volkstum bei der Wurzel erfaßt und von Grund
auf kuriert werden. Ein Verein, der nur die Volkstracht Pflegen will, ist unsers
Trachtens ein Unding und trügt nur dazu bei, die Volkstumspflege in Mi߬
kredit zu bringen. Wir dürfen bei alledem nicht vergessen, daß alles Gewordne
durch die Entwicklung geworden ist, und daß auch das Volkstum diesem Natur¬
gesetz untergeordnet ist. Ein Beispiel dafür bietet gerade die Volkstracht, die
da, wo sie noch besteht, gewiß nicht etwas vor hundert Jahren erstarrtes,
sondern etwas sich stets fortentwickelndes ist. In Wahrheit können wir also
nichts andres tun, als diese Entwicklung im Volkstum Pflegen, dafür sorgen,
daß sie sich nicht überstürzt oder gar jäh unterbricht, daß die Entwicklung auch
nicht von außen gewaltsam herbeigeführt, sondern durch den Takt der gesunden
Volksseele geleitet wird. Kein jähes Abbrechen also durch Einführung fremder
städtischer Moden und Stile, sondern ein organisches Fortentwickeln der einzelnen
Zweige des Volkstums zu einem wahren volksgemnßen Neuen" (S. 260).




Russische Bauernhochzeit
M. Schneider Skizze von

ußland steht jetzt im Vordergrunde des Interesses, große Umwälzungen
bereiten sich vor, und mit Spannung verfolgen wir die Vorgänge
im Osten. Das russische Volk schließt sich zusammen gegen das
Gewaltsystem der Bureaukratie und verlangt dringend sozialpolitische
Reformen. Die Entwicklung schreitet vorwärts, das Bolksbewußtsein
erwacht und beginnt sich zu regen. Es ist sonderbar, wie sich neben
diesen freiheitlichen Ideen im Volle noch ein zäher Konservatismus, ein Festhalten
am krassesten Aberglauben behauptet. Das zeigen mit am klarsten die eigentümlichen
Hochzeitsgebräuche, die oft noch bis in die ferne Heidenzeit zurückdatieren. Ich


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Russisch«: Bauernhochzeit

ist sie nüchtern und praktisch wie das Leben selbst und darf auch hoffen, auf
das Leben Einfluß zu gewinnen.

Heinrich Svhnrey. dem die Pflege des Volkstums so viel verdankt, sagt in
seinem „Wegweiser für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege" (Berlin, 1900):
„Bei den einzelnen Versuchen, welche hier und da in bester Absicht zur Neu¬
belebung des Volkstums gemacht sind, z. V. durch die Vereine zur Erhaltung
der Volkstrachten, ist man insofern in einem schweren Irrtum befangen, als
man das Volksleben von einem einzelnen äußern Bestandteil aus glaubt wieder¬
beleben zu können und annimmt, daß es darauf ankäme, diesen Bestandteil genau
so zu erhalten, wie er einstmals war. Wollen wir einen kranken Baum wieder
gesund machen, so würde es wohl niemand einfallen, beim Wipfel oder einem
einzelnen Zweige anzufangen, sondern wir suchen ihn vor allem am Wurzel-
bvden zu behandeln, und gelingt es uns, ihn von der Wurzel aufwärts gesund
zu machen, so werden die Zweige hernach ganz von selbst wieder grünen und
blühen. So muß auch das Volkstum bei der Wurzel erfaßt und von Grund
auf kuriert werden. Ein Verein, der nur die Volkstracht Pflegen will, ist unsers
Trachtens ein Unding und trügt nur dazu bei, die Volkstumspflege in Mi߬
kredit zu bringen. Wir dürfen bei alledem nicht vergessen, daß alles Gewordne
durch die Entwicklung geworden ist, und daß auch das Volkstum diesem Natur¬
gesetz untergeordnet ist. Ein Beispiel dafür bietet gerade die Volkstracht, die
da, wo sie noch besteht, gewiß nicht etwas vor hundert Jahren erstarrtes,
sondern etwas sich stets fortentwickelndes ist. In Wahrheit können wir also
nichts andres tun, als diese Entwicklung im Volkstum Pflegen, dafür sorgen,
daß sie sich nicht überstürzt oder gar jäh unterbricht, daß die Entwicklung auch
nicht von außen gewaltsam herbeigeführt, sondern durch den Takt der gesunden
Volksseele geleitet wird. Kein jähes Abbrechen also durch Einführung fremder
städtischer Moden und Stile, sondern ein organisches Fortentwickeln der einzelnen
Zweige des Volkstums zu einem wahren volksgemnßen Neuen" (S. 260).




Russische Bauernhochzeit
M. Schneider Skizze von

ußland steht jetzt im Vordergrunde des Interesses, große Umwälzungen
bereiten sich vor, und mit Spannung verfolgen wir die Vorgänge
im Osten. Das russische Volk schließt sich zusammen gegen das
Gewaltsystem der Bureaukratie und verlangt dringend sozialpolitische
Reformen. Die Entwicklung schreitet vorwärts, das Bolksbewußtsein
erwacht und beginnt sich zu regen. Es ist sonderbar, wie sich neben
diesen freiheitlichen Ideen im Volle noch ein zäher Konservatismus, ein Festhalten
am krassesten Aberglauben behauptet. Das zeigen mit am klarsten die eigentümlichen
Hochzeitsgebräuche, die oft noch bis in die ferne Heidenzeit zurückdatieren. Ich


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[0685] Russisch«: Bauernhochzeit ist sie nüchtern und praktisch wie das Leben selbst und darf auch hoffen, auf das Leben Einfluß zu gewinnen. Heinrich Svhnrey. dem die Pflege des Volkstums so viel verdankt, sagt in seinem „Wegweiser für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege" (Berlin, 1900): „Bei den einzelnen Versuchen, welche hier und da in bester Absicht zur Neu¬ belebung des Volkstums gemacht sind, z. V. durch die Vereine zur Erhaltung der Volkstrachten, ist man insofern in einem schweren Irrtum befangen, als man das Volksleben von einem einzelnen äußern Bestandteil aus glaubt wieder¬ beleben zu können und annimmt, daß es darauf ankäme, diesen Bestandteil genau so zu erhalten, wie er einstmals war. Wollen wir einen kranken Baum wieder gesund machen, so würde es wohl niemand einfallen, beim Wipfel oder einem einzelnen Zweige anzufangen, sondern wir suchen ihn vor allem am Wurzel- bvden zu behandeln, und gelingt es uns, ihn von der Wurzel aufwärts gesund zu machen, so werden die Zweige hernach ganz von selbst wieder grünen und blühen. So muß auch das Volkstum bei der Wurzel erfaßt und von Grund auf kuriert werden. Ein Verein, der nur die Volkstracht Pflegen will, ist unsers Trachtens ein Unding und trügt nur dazu bei, die Volkstumspflege in Mi߬ kredit zu bringen. Wir dürfen bei alledem nicht vergessen, daß alles Gewordne durch die Entwicklung geworden ist, und daß auch das Volkstum diesem Natur¬ gesetz untergeordnet ist. Ein Beispiel dafür bietet gerade die Volkstracht, die da, wo sie noch besteht, gewiß nicht etwas vor hundert Jahren erstarrtes, sondern etwas sich stets fortentwickelndes ist. In Wahrheit können wir also nichts andres tun, als diese Entwicklung im Volkstum Pflegen, dafür sorgen, daß sie sich nicht überstürzt oder gar jäh unterbricht, daß die Entwicklung auch nicht von außen gewaltsam herbeigeführt, sondern durch den Takt der gesunden Volksseele geleitet wird. Kein jähes Abbrechen also durch Einführung fremder städtischer Moden und Stile, sondern ein organisches Fortentwickeln der einzelnen Zweige des Volkstums zu einem wahren volksgemnßen Neuen" (S. 260). Russische Bauernhochzeit M. Schneider Skizze von ußland steht jetzt im Vordergrunde des Interesses, große Umwälzungen bereiten sich vor, und mit Spannung verfolgen wir die Vorgänge im Osten. Das russische Volk schließt sich zusammen gegen das Gewaltsystem der Bureaukratie und verlangt dringend sozialpolitische Reformen. Die Entwicklung schreitet vorwärts, das Bolksbewußtsein erwacht und beginnt sich zu regen. Es ist sonderbar, wie sich neben diesen freiheitlichen Ideen im Volle noch ein zäher Konservatismus, ein Festhalten am krassesten Aberglauben behauptet. Das zeigen mit am klarsten die eigentümlichen Hochzeitsgebräuche, die oft noch bis in die ferne Heidenzeit zurückdatieren. Ich Grenzboten >U 190t> 90

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/685>, abgerufen am 30.04.2024.