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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Zeitungsberichte und Gerichtsverhandlungen

hinzu, doch kann hiervon nur die westliche Landeshälfte als polnisch angesehen
werden. Galizien zählt nur 3,9 Millionen Polen, daneben 3,1 Millionen
Nuthenen. Mit der Anwendung des Begriffes "Sprachgebiet" auf ganz
Galizien wäre es also eine heikle Sache. Die ruthenische Minderheit würde
dem Staat das Leben sauer machen. Die drei preußischen Regierungsbezirke
mit polnischer Mehrheit zählen 43208 Quadratkilometer und 3^ Millionen
Einwohner, unter denen nur 2,4 Millionen Polen wären. Das wäre auch
ohne Westpreußen ein ganz ansehnlicher Staat: 249000 Quadratkilometer,
also fast halb so groß wie Deutschland, mit 20^ Millionen Einwohnern, unter
denen etwa 13,3 Millionen Polen wären. Daß das nichtpolnische Drittel
den Polen ausgeliefert würde, finden diese natürlich vollständig in der Ordnung.
Doch dieser Staat hat ein Gutes für Deutschland: er wird niemals das Reich
der Träume verlassen und auf die Erde herniedersteigen. Plänen dieser Art
wird sich nicht nur Rußland, sondern auch das etwas solidere Deutsche Reich
bis zum letzten Atemzug widersetzen.




Zeitungsberichte und Gerichtsverhandlungen
Landrichter I)r. Winter von

le Gefährlichkeit der Preßbcrichte sensationslüsterner Tagesblätter
über die Greueltaten aller Art, die sich in Stadt und Land er¬
eignen und ein gerichtliches Nachspiel haben, ist oft schon betont
und beklagt worden; gar mancher jugendliche Leser wird zur
traurigen Nacheiferung angespornt, wer täglich mit solchen Dingen
gefüttert wird, muß mit der Zeit stumpf gegen das Gemeine und frivol werden.
Ein besonders wichtiger Punkt aus diesem Kapitel aber, der sich nicht nur
auf die rächende Nemesis, die Strafjustiz, sondern auf jede Art von Rechts¬
pflege bezieht, sei hier erörtert: die häufige Entstellung der Tatsachen in den
Preßberichten, die teils unabsichtlich, teils bewußt geschieht, und die Kritik
der Maßnahmen und Urteile der Gerichte, die auf Grund solcher unsichern
Unterlagen in den Tageszeitungen geübt wird.

Den Luxus, juristisch durchgebildete Berichterstatter in die Gerichts¬
verhandlungen zu senden, können sich natürlich nur wenige große Blätter
gestatten. Gemeinhin ist es in der Strafjustiz auch ohne Bedenken, denn die
einfachen Notizen, daß X A Z wegen Diebstahls, Widerstandes, Körper¬
verletzung und dergleichen zu so und so viel Jahren Zuchthaus oder Gefängnis
verurteilt worden ist, kann jeder Durchschnittsreporter machen. Bei andern
Strafsachen, wie Betrug, Konkursvergehn u. a., ist das schon weit schwieriger,
weil die Anwendung dieser fein ausgeklügelten Rechtsnormen auf die meist


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hinzu, doch kann hiervon nur die westliche Landeshälfte als polnisch angesehen
werden. Galizien zählt nur 3,9 Millionen Polen, daneben 3,1 Millionen
Nuthenen. Mit der Anwendung des Begriffes „Sprachgebiet" auf ganz
Galizien wäre es also eine heikle Sache. Die ruthenische Minderheit würde
dem Staat das Leben sauer machen. Die drei preußischen Regierungsbezirke
mit polnischer Mehrheit zählen 43208 Quadratkilometer und 3^ Millionen
Einwohner, unter denen nur 2,4 Millionen Polen wären. Das wäre auch
ohne Westpreußen ein ganz ansehnlicher Staat: 249000 Quadratkilometer,
also fast halb so groß wie Deutschland, mit 20^ Millionen Einwohnern, unter
denen etwa 13,3 Millionen Polen wären. Daß das nichtpolnische Drittel
den Polen ausgeliefert würde, finden diese natürlich vollständig in der Ordnung.
Doch dieser Staat hat ein Gutes für Deutschland: er wird niemals das Reich
der Träume verlassen und auf die Erde herniedersteigen. Plänen dieser Art
wird sich nicht nur Rußland, sondern auch das etwas solidere Deutsche Reich
bis zum letzten Atemzug widersetzen.




Zeitungsberichte und Gerichtsverhandlungen
Landrichter I)r. Winter von

le Gefährlichkeit der Preßbcrichte sensationslüsterner Tagesblätter
über die Greueltaten aller Art, die sich in Stadt und Land er¬
eignen und ein gerichtliches Nachspiel haben, ist oft schon betont
und beklagt worden; gar mancher jugendliche Leser wird zur
traurigen Nacheiferung angespornt, wer täglich mit solchen Dingen
gefüttert wird, muß mit der Zeit stumpf gegen das Gemeine und frivol werden.
Ein besonders wichtiger Punkt aus diesem Kapitel aber, der sich nicht nur
auf die rächende Nemesis, die Strafjustiz, sondern auf jede Art von Rechts¬
pflege bezieht, sei hier erörtert: die häufige Entstellung der Tatsachen in den
Preßberichten, die teils unabsichtlich, teils bewußt geschieht, und die Kritik
der Maßnahmen und Urteile der Gerichte, die auf Grund solcher unsichern
Unterlagen in den Tageszeitungen geübt wird.

Den Luxus, juristisch durchgebildete Berichterstatter in die Gerichts¬
verhandlungen zu senden, können sich natürlich nur wenige große Blätter
gestatten. Gemeinhin ist es in der Strafjustiz auch ohne Bedenken, denn die
einfachen Notizen, daß X A Z wegen Diebstahls, Widerstandes, Körper¬
verletzung und dergleichen zu so und so viel Jahren Zuchthaus oder Gefängnis
verurteilt worden ist, kann jeder Durchschnittsreporter machen. Bei andern
Strafsachen, wie Betrug, Konkursvergehn u. a., ist das schon weit schwieriger,
weil die Anwendung dieser fein ausgeklügelten Rechtsnormen auf die meist


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[0072] Zeitungsberichte und Gerichtsverhandlungen hinzu, doch kann hiervon nur die westliche Landeshälfte als polnisch angesehen werden. Galizien zählt nur 3,9 Millionen Polen, daneben 3,1 Millionen Nuthenen. Mit der Anwendung des Begriffes „Sprachgebiet" auf ganz Galizien wäre es also eine heikle Sache. Die ruthenische Minderheit würde dem Staat das Leben sauer machen. Die drei preußischen Regierungsbezirke mit polnischer Mehrheit zählen 43208 Quadratkilometer und 3^ Millionen Einwohner, unter denen nur 2,4 Millionen Polen wären. Das wäre auch ohne Westpreußen ein ganz ansehnlicher Staat: 249000 Quadratkilometer, also fast halb so groß wie Deutschland, mit 20^ Millionen Einwohnern, unter denen etwa 13,3 Millionen Polen wären. Daß das nichtpolnische Drittel den Polen ausgeliefert würde, finden diese natürlich vollständig in der Ordnung. Doch dieser Staat hat ein Gutes für Deutschland: er wird niemals das Reich der Träume verlassen und auf die Erde herniedersteigen. Plänen dieser Art wird sich nicht nur Rußland, sondern auch das etwas solidere Deutsche Reich bis zum letzten Atemzug widersetzen. Zeitungsberichte und Gerichtsverhandlungen Landrichter I)r. Winter von le Gefährlichkeit der Preßbcrichte sensationslüsterner Tagesblätter über die Greueltaten aller Art, die sich in Stadt und Land er¬ eignen und ein gerichtliches Nachspiel haben, ist oft schon betont und beklagt worden; gar mancher jugendliche Leser wird zur traurigen Nacheiferung angespornt, wer täglich mit solchen Dingen gefüttert wird, muß mit der Zeit stumpf gegen das Gemeine und frivol werden. Ein besonders wichtiger Punkt aus diesem Kapitel aber, der sich nicht nur auf die rächende Nemesis, die Strafjustiz, sondern auf jede Art von Rechts¬ pflege bezieht, sei hier erörtert: die häufige Entstellung der Tatsachen in den Preßberichten, die teils unabsichtlich, teils bewußt geschieht, und die Kritik der Maßnahmen und Urteile der Gerichte, die auf Grund solcher unsichern Unterlagen in den Tageszeitungen geübt wird. Den Luxus, juristisch durchgebildete Berichterstatter in die Gerichts¬ verhandlungen zu senden, können sich natürlich nur wenige große Blätter gestatten. Gemeinhin ist es in der Strafjustiz auch ohne Bedenken, denn die einfachen Notizen, daß X A Z wegen Diebstahls, Widerstandes, Körper¬ verletzung und dergleichen zu so und so viel Jahren Zuchthaus oder Gefängnis verurteilt worden ist, kann jeder Durchschnittsreporter machen. Bei andern Strafsachen, wie Betrug, Konkursvergehn u. a., ist das schon weit schwieriger, weil die Anwendung dieser fein ausgeklügelten Rechtsnormen auf die meist

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/72>, abgerufen am 30.04.2024.