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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Moderner Bildungsschwindel

mals wiederholt, als unvollendet, vollendet, endlich als einmalig vollendet
darzustellen. Und alle diese Schwierigkeiten wachsen noch durch die außer¬
ordentlich verwickelten Laut- und Bildungsgesetze.

Dies nur als Probe. Aber es liegt auf der Hand, daß, wenn die zahl¬
losen in der Theorie vorhandnen Formen auch wirklich gebraucht würden, das
Erlernen des Russischen an die Grenze der menschlichen Fassungskraft streifte.
In der Tat scheute nicht bloß der Ausländer, sondern auch der gebildete Teil
der Nation selbst, der einen weit reichern Begriffs- und Vorstellungskreis zu
decken hatte als der einfache Muschik, bis vor kurzem die Mühe, sich seine Mutter¬
sprache bis zur Fertigkeit anzueignen. Er sprach das Französische, in dessen
Handhabung er erzogen worden war. Doch zeigt ein näherer Einblick, daß
sich viele der an die wilde Naturkraft des Urwaldes erinnernden sprachlichen
Schößlinge ohne Schaden für die Deutlichkeit beseitigen lassen. Auch kann
als Ausgleich für den überquellenden Formenreichtum die Einfachheit der
Syntax gelten, die in bezug auf die Wortstellung zumal durchaus modernes
Gepräge trägt. Ja schon das vollständige Fehlen des Artikels und die fast
regelmäßige Weglassung der Kopula bilden eine wesentliche Erleichterung:
<WsI) ol^rüsotü heißt "das gute Brot", olllsb vlmi'shok aber "das Brot
^ gut". (Schluß folgt)




Moderner Bildungsschwindel

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I^WUi.>errlich weit haben wir es doch gebracht in unserm Zeitalter der
allgemeinen Bildung, so weit, daß mancher schon deshalb be¬
geistert ausrufen möchte: O Jahrhundert, es ist eine Lust, in
dir zu leben! In immer weitere Kreise dringt die Bildung, jedes
Jahr bringt neue "Bildungssysteme", neuen Bildungsfortschritt,
!neue Bildungsmoden und -Methoden, eine so unfehlbar wie die
andre, jede mit dem zuversichtlichen Anspruch auf allgemeine Giltigkeit, jede
einem tiefgefühlten Bedürfnis entsprechend und Befreiung bringend von altem
Zopf und Vorurteil. Pädagogen von Fach und Laien, deren Blick von keinerlei
Sachkenntnis getrübt ist, wetteifern miteinander darin, die Menschheit mit
neuer Bildung zu erfreuen, mächtig stoßen alle die Reformer und Menschheits-
beglttcker in die Neklametrompete und verheißen einen neuen Völkerfrühling,
geistige und körperliche Kraft und Gesundung, wenn man nur ihr Rezept, die
magische Panacee, anwendete. Kurpfuscher an allen Ecken und Enden! Reklame
zieht, das Kaufhaus zur modernen Bildung macht glänzende Geschäfte. Gewiß,
es hat anch gute, solide Ware -- jeder Ramschbasar muß solche haben --, die
billigen Lockartikel, die hübsche Ausstellung, die Bequemlichkeit des Kaufes
winken, man nimmt dies und jenes, unbekümmert darum, ob man es brauchen
kann, und füllt schließlich seinen geistigen Haushalt mit solchen in die Augen
fallenden Dingelchen an. ohne es zu fühlen, daß man nur Tand erstanden


Grenzboten Hi 1906 12
Moderner Bildungsschwindel

mals wiederholt, als unvollendet, vollendet, endlich als einmalig vollendet
darzustellen. Und alle diese Schwierigkeiten wachsen noch durch die außer¬
ordentlich verwickelten Laut- und Bildungsgesetze.

Dies nur als Probe. Aber es liegt auf der Hand, daß, wenn die zahl¬
losen in der Theorie vorhandnen Formen auch wirklich gebraucht würden, das
Erlernen des Russischen an die Grenze der menschlichen Fassungskraft streifte.
In der Tat scheute nicht bloß der Ausländer, sondern auch der gebildete Teil
der Nation selbst, der einen weit reichern Begriffs- und Vorstellungskreis zu
decken hatte als der einfache Muschik, bis vor kurzem die Mühe, sich seine Mutter¬
sprache bis zur Fertigkeit anzueignen. Er sprach das Französische, in dessen
Handhabung er erzogen worden war. Doch zeigt ein näherer Einblick, daß
sich viele der an die wilde Naturkraft des Urwaldes erinnernden sprachlichen
Schößlinge ohne Schaden für die Deutlichkeit beseitigen lassen. Auch kann
als Ausgleich für den überquellenden Formenreichtum die Einfachheit der
Syntax gelten, die in bezug auf die Wortstellung zumal durchaus modernes
Gepräge trägt. Ja schon das vollständige Fehlen des Artikels und die fast
regelmäßige Weglassung der Kopula bilden eine wesentliche Erleichterung:
<WsI) ol^rüsotü heißt „das gute Brot", olllsb vlmi'shok aber „das Brot
^ gut". (Schluß folgt)




Moderner Bildungsschwindel

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I^WUi.>errlich weit haben wir es doch gebracht in unserm Zeitalter der
allgemeinen Bildung, so weit, daß mancher schon deshalb be¬
geistert ausrufen möchte: O Jahrhundert, es ist eine Lust, in
dir zu leben! In immer weitere Kreise dringt die Bildung, jedes
Jahr bringt neue „Bildungssysteme", neuen Bildungsfortschritt,
!neue Bildungsmoden und -Methoden, eine so unfehlbar wie die
andre, jede mit dem zuversichtlichen Anspruch auf allgemeine Giltigkeit, jede
einem tiefgefühlten Bedürfnis entsprechend und Befreiung bringend von altem
Zopf und Vorurteil. Pädagogen von Fach und Laien, deren Blick von keinerlei
Sachkenntnis getrübt ist, wetteifern miteinander darin, die Menschheit mit
neuer Bildung zu erfreuen, mächtig stoßen alle die Reformer und Menschheits-
beglttcker in die Neklametrompete und verheißen einen neuen Völkerfrühling,
geistige und körperliche Kraft und Gesundung, wenn man nur ihr Rezept, die
magische Panacee, anwendete. Kurpfuscher an allen Ecken und Enden! Reklame
zieht, das Kaufhaus zur modernen Bildung macht glänzende Geschäfte. Gewiß,
es hat anch gute, solide Ware — jeder Ramschbasar muß solche haben —, die
billigen Lockartikel, die hübsche Ausstellung, die Bequemlichkeit des Kaufes
winken, man nimmt dies und jenes, unbekümmert darum, ob man es brauchen
kann, und füllt schließlich seinen geistigen Haushalt mit solchen in die Augen
fallenden Dingelchen an. ohne es zu fühlen, daß man nur Tand erstanden


Grenzboten Hi 1906 12
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[0097] Moderner Bildungsschwindel mals wiederholt, als unvollendet, vollendet, endlich als einmalig vollendet darzustellen. Und alle diese Schwierigkeiten wachsen noch durch die außer¬ ordentlich verwickelten Laut- und Bildungsgesetze. Dies nur als Probe. Aber es liegt auf der Hand, daß, wenn die zahl¬ losen in der Theorie vorhandnen Formen auch wirklich gebraucht würden, das Erlernen des Russischen an die Grenze der menschlichen Fassungskraft streifte. In der Tat scheute nicht bloß der Ausländer, sondern auch der gebildete Teil der Nation selbst, der einen weit reichern Begriffs- und Vorstellungskreis zu decken hatte als der einfache Muschik, bis vor kurzem die Mühe, sich seine Mutter¬ sprache bis zur Fertigkeit anzueignen. Er sprach das Französische, in dessen Handhabung er erzogen worden war. Doch zeigt ein näherer Einblick, daß sich viele der an die wilde Naturkraft des Urwaldes erinnernden sprachlichen Schößlinge ohne Schaden für die Deutlichkeit beseitigen lassen. Auch kann als Ausgleich für den überquellenden Formenreichtum die Einfachheit der Syntax gelten, die in bezug auf die Wortstellung zumal durchaus modernes Gepräge trägt. Ja schon das vollständige Fehlen des Artikels und die fast regelmäßige Weglassung der Kopula bilden eine wesentliche Erleichterung: <WsI) ol^rüsotü heißt „das gute Brot", olllsb vlmi'shok aber „das Brot ^ gut". (Schluß folgt) Moderner Bildungsschwindel Z?»U GM^ I^WUi.>errlich weit haben wir es doch gebracht in unserm Zeitalter der allgemeinen Bildung, so weit, daß mancher schon deshalb be¬ geistert ausrufen möchte: O Jahrhundert, es ist eine Lust, in dir zu leben! In immer weitere Kreise dringt die Bildung, jedes Jahr bringt neue „Bildungssysteme", neuen Bildungsfortschritt, !neue Bildungsmoden und -Methoden, eine so unfehlbar wie die andre, jede mit dem zuversichtlichen Anspruch auf allgemeine Giltigkeit, jede einem tiefgefühlten Bedürfnis entsprechend und Befreiung bringend von altem Zopf und Vorurteil. Pädagogen von Fach und Laien, deren Blick von keinerlei Sachkenntnis getrübt ist, wetteifern miteinander darin, die Menschheit mit neuer Bildung zu erfreuen, mächtig stoßen alle die Reformer und Menschheits- beglttcker in die Neklametrompete und verheißen einen neuen Völkerfrühling, geistige und körperliche Kraft und Gesundung, wenn man nur ihr Rezept, die magische Panacee, anwendete. Kurpfuscher an allen Ecken und Enden! Reklame zieht, das Kaufhaus zur modernen Bildung macht glänzende Geschäfte. Gewiß, es hat anch gute, solide Ware — jeder Ramschbasar muß solche haben —, die billigen Lockartikel, die hübsche Ausstellung, die Bequemlichkeit des Kaufes winken, man nimmt dies und jenes, unbekümmert darum, ob man es brauchen kann, und füllt schließlich seinen geistigen Haushalt mit solchen in die Augen fallenden Dingelchen an. ohne es zu fühlen, daß man nur Tand erstanden Grenzboten Hi 1906 12

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/97>, abgerufen am 30.04.2024.