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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Gegen die Agitation der Hozialdemokratie

!er Reichsbote brachte kürzlich unter dem Titel: "Ein Vorschlag
zur Güte" einen sehr beachtenswerten Artikel, der einer um¬
fassenden Verständigung aller bürgerlichen Parteien gegen die
Sozinldemokratie das Wort redet. Ein sächsisches Blatt bemerkt
!sehr richtig, daß dieser Vorschlag nichts neues enthalte, daß es
aber nicht genüge zu sagen, was geschehen solle, sondern die Hauptsache sei,
auch das Wie anzugeben.

Der Einsender der nachstehenden kurzen Betrachtungen ist nun weit ent¬
fernt davon, Mittel und Wege zur Verständigung und Einigung der auf
der Basis unsrer heutigen Staatsform stehenden Parteien vorschlagen zu
können oder auch nur den Versuch hierzu an dieser Stelle zu machen, da er
aber, seit vielen Jahren in der Schweiz lebend, die sozialpolitischen Verhält¬
nisse dieses Landes ebenso wie die Deutschlands mit regem Interesse beobachtet,
so liegt ihm ein Vergleich derselben sehr nahe. Die Arbeitsverhältnisse, die
Lebensverhältnisse der arbeitenden Klasse, die industriellen Einrichtungen und
die soziale Gesetzgebung sind sich in beiden Ländern sehr ähnlich, vielfach
gleich; die politischen Verhältnisse hingegen, die durch die demokratisch-republi¬
kanische Staatsform der Schweiz bedingt werden, sind wesentlich verschieden.
Die Scheidung der einzelnen politischen Parteien ist im allgemeinen in der
Schweiz weit weniger scharf als in Deutschland, und von einer konservativen
Partei ist -- unsern Begriffen nach -- kaum die Rede. Trotzdem aber hat
sich auch in der Schweiz mehr und mehr eine Scheidung vollzogen zwischen
den "bürgerlichen" Parteien und der "sozialdemokratischen" Partei, und diese
Scheidung ist genau wie in Deutschland immer schärfer geworden, je radikaler
die Sozialdemokraten geworden sind, je mehr sie die Agitation auf ihre
Fahne geschrieben haben, und je weniger es ihnen gelingt, sich als unbedingte
Gegner des Anarchismus aufzuspielen. Die sozialdemokratische Partei spielt
insofern in der Schweiz eine größere Rolle als in Deutschland, als eine große


Grenzboten IV 190S 1


Gegen die Agitation der Hozialdemokratie

!er Reichsbote brachte kürzlich unter dem Titel: „Ein Vorschlag
zur Güte" einen sehr beachtenswerten Artikel, der einer um¬
fassenden Verständigung aller bürgerlichen Parteien gegen die
Sozinldemokratie das Wort redet. Ein sächsisches Blatt bemerkt
!sehr richtig, daß dieser Vorschlag nichts neues enthalte, daß es
aber nicht genüge zu sagen, was geschehen solle, sondern die Hauptsache sei,
auch das Wie anzugeben.

Der Einsender der nachstehenden kurzen Betrachtungen ist nun weit ent¬
fernt davon, Mittel und Wege zur Verständigung und Einigung der auf
der Basis unsrer heutigen Staatsform stehenden Parteien vorschlagen zu
können oder auch nur den Versuch hierzu an dieser Stelle zu machen, da er
aber, seit vielen Jahren in der Schweiz lebend, die sozialpolitischen Verhält¬
nisse dieses Landes ebenso wie die Deutschlands mit regem Interesse beobachtet,
so liegt ihm ein Vergleich derselben sehr nahe. Die Arbeitsverhältnisse, die
Lebensverhältnisse der arbeitenden Klasse, die industriellen Einrichtungen und
die soziale Gesetzgebung sind sich in beiden Ländern sehr ähnlich, vielfach
gleich; die politischen Verhältnisse hingegen, die durch die demokratisch-republi¬
kanische Staatsform der Schweiz bedingt werden, sind wesentlich verschieden.
Die Scheidung der einzelnen politischen Parteien ist im allgemeinen in der
Schweiz weit weniger scharf als in Deutschland, und von einer konservativen
Partei ist — unsern Begriffen nach — kaum die Rede. Trotzdem aber hat
sich auch in der Schweiz mehr und mehr eine Scheidung vollzogen zwischen
den „bürgerlichen" Parteien und der „sozialdemokratischen" Partei, und diese
Scheidung ist genau wie in Deutschland immer schärfer geworden, je radikaler
die Sozialdemokraten geworden sind, je mehr sie die Agitation auf ihre
Fahne geschrieben haben, und je weniger es ihnen gelingt, sich als unbedingte
Gegner des Anarchismus aufzuspielen. Die sozialdemokratische Partei spielt
insofern in der Schweiz eine größere Rolle als in Deutschland, als eine große


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[0013] [Abbildung] Gegen die Agitation der Hozialdemokratie !er Reichsbote brachte kürzlich unter dem Titel: „Ein Vorschlag zur Güte" einen sehr beachtenswerten Artikel, der einer um¬ fassenden Verständigung aller bürgerlichen Parteien gegen die Sozinldemokratie das Wort redet. Ein sächsisches Blatt bemerkt !sehr richtig, daß dieser Vorschlag nichts neues enthalte, daß es aber nicht genüge zu sagen, was geschehen solle, sondern die Hauptsache sei, auch das Wie anzugeben. Der Einsender der nachstehenden kurzen Betrachtungen ist nun weit ent¬ fernt davon, Mittel und Wege zur Verständigung und Einigung der auf der Basis unsrer heutigen Staatsform stehenden Parteien vorschlagen zu können oder auch nur den Versuch hierzu an dieser Stelle zu machen, da er aber, seit vielen Jahren in der Schweiz lebend, die sozialpolitischen Verhält¬ nisse dieses Landes ebenso wie die Deutschlands mit regem Interesse beobachtet, so liegt ihm ein Vergleich derselben sehr nahe. Die Arbeitsverhältnisse, die Lebensverhältnisse der arbeitenden Klasse, die industriellen Einrichtungen und die soziale Gesetzgebung sind sich in beiden Ländern sehr ähnlich, vielfach gleich; die politischen Verhältnisse hingegen, die durch die demokratisch-republi¬ kanische Staatsform der Schweiz bedingt werden, sind wesentlich verschieden. Die Scheidung der einzelnen politischen Parteien ist im allgemeinen in der Schweiz weit weniger scharf als in Deutschland, und von einer konservativen Partei ist — unsern Begriffen nach — kaum die Rede. Trotzdem aber hat sich auch in der Schweiz mehr und mehr eine Scheidung vollzogen zwischen den „bürgerlichen" Parteien und der „sozialdemokratischen" Partei, und diese Scheidung ist genau wie in Deutschland immer schärfer geworden, je radikaler die Sozialdemokraten geworden sind, je mehr sie die Agitation auf ihre Fahne geschrieben haben, und je weniger es ihnen gelingt, sich als unbedingte Gegner des Anarchismus aufzuspielen. Die sozialdemokratische Partei spielt insofern in der Schweiz eine größere Rolle als in Deutschland, als eine große Grenzboten IV 190S 1

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/13>, abgerufen am 29.04.2024.