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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Heimatsehnsucht

21. Juni 1771 gab er, zu, daß sich die öffentlichen Schauspiele ganz und gar
nicht für Städte und Örter schicken, wo junge Leute zum Dienst des Staates
gebildet werden sollen, indem solche vielmehr der Jugend nur Anlaß gäben,
Zeit und Geld unnützerweise zu verschwenden und die ans diesen Pflanzschulen
so unumgänglich nötige gute Zucht zu stören. Er ordnete an, daß sich alle
privilegierten Komödianten aller Vorstellung öffentlicher Schauspiele auf dero
sämtlichen Universitäten und in deren Nachbarschaft künftighin schlechterdings
enthalten sollten.

So schlössen denn dank der Zähigkeit der Universität Halle zu derselben
Zeit, wo in Wolfenbüttel Lessing seine "Emilia Galotti" schrieb, nochmals
für mehrere Jahre die preußischen Universitätsstädte der deutschen Schaubühne
ihre Tore.




Heimatsehnsucht
Iassy Torrn ut Novelle von
(Fortsetzung)

>n einem jener Spätsommertage voll überirdischer Klarheit, die der
Norden seinen Kindern schenkt, kam das Ehepaar Sebaldus aus der
Kirche und machte den gewohnten Spaziergang am Damm entlang.
Die Kinder liefen vor ihnen her, hatten alle Taschen voll Semmeln
und fütterten das ewig hungrige Möwenvolk. Die Eltern waren
stehn geblieben und sahen dem fröhlichen Treiben zu -- abgesehen
von Marias augenblicklich etwas schwerfälligem Zustand ein stattliches Paar; er
groß und breitschultrig, mit dem schlichten blonden Haar und den sehr hellen
Augen der Westfalen, kein klassisch schönes aber ein angenehmes Gesicht, dem man
in guten Stunden, wie eben jetzt, nichts von Strenge und Altwcrden ansah.
Daneben der feine dunkelhaarige Frauenkopf, in den großen leuchtenden Augen
einen solchen Ausdruck von Güte und Mütterlichkeit, als wollten sie mit dem Reich¬
tum ihrer Liebe nicht nur die eignen Kinder, sondern all das sich ringsum tummelnde
kleine Volk umfassen. -- So wenigstens dachte einer, der eben des Wegs dciher-
geschlendert kam und aussah wie der liebe strahlende Sommersonntag selbst.

Wo kommen Sie denn her, lieber Professor? fragte Maria arglos.

Heinrich zog die Augenbrauen hoch. Du, sag mal, Hans, wann gehst du denn
eigentlich in die Messe? Wir treffen dich ja jetzt niemals mehr?

Recklinghaus wollte auffahren, sich den Schulmeisterton verbitten, aber ein
bittender Blick Marias ließ ihn schweigen. Er klopfte den Freund auf die Schulter.

Mensch, frag mich nicht! Ich hatte so eine wunderfeine Melodie in den
Ohren, und der Sonnenschein und der Sonntagmorgen lockte. Da ließ ich mich
von Schiffer Rathgens hinaussegeln, weit, weit -- bis wo nichts mehr war als
der blaue Himmel und das blaue Wasser. Und da lag ich lcmgaus im Boot,
rauchte meinen Tobak und ließ mir die Wellen was Vorsingen. Ein Lied, ein
Lied -- Heinz, ich sage dir, du wirst staunen -- ein Lied, das der Herrgott
selber an diesem wunderschönen Sonntagmorgen mir geschenkt hat.

Aber Hans, die Kirche . . .


Heimatsehnsucht

21. Juni 1771 gab er, zu, daß sich die öffentlichen Schauspiele ganz und gar
nicht für Städte und Örter schicken, wo junge Leute zum Dienst des Staates
gebildet werden sollen, indem solche vielmehr der Jugend nur Anlaß gäben,
Zeit und Geld unnützerweise zu verschwenden und die ans diesen Pflanzschulen
so unumgänglich nötige gute Zucht zu stören. Er ordnete an, daß sich alle
privilegierten Komödianten aller Vorstellung öffentlicher Schauspiele auf dero
sämtlichen Universitäten und in deren Nachbarschaft künftighin schlechterdings
enthalten sollten.

So schlössen denn dank der Zähigkeit der Universität Halle zu derselben
Zeit, wo in Wolfenbüttel Lessing seine „Emilia Galotti" schrieb, nochmals
für mehrere Jahre die preußischen Universitätsstädte der deutschen Schaubühne
ihre Tore.




Heimatsehnsucht
Iassy Torrn ut Novelle von
(Fortsetzung)

>n einem jener Spätsommertage voll überirdischer Klarheit, die der
Norden seinen Kindern schenkt, kam das Ehepaar Sebaldus aus der
Kirche und machte den gewohnten Spaziergang am Damm entlang.
Die Kinder liefen vor ihnen her, hatten alle Taschen voll Semmeln
und fütterten das ewig hungrige Möwenvolk. Die Eltern waren
stehn geblieben und sahen dem fröhlichen Treiben zu — abgesehen
von Marias augenblicklich etwas schwerfälligem Zustand ein stattliches Paar; er
groß und breitschultrig, mit dem schlichten blonden Haar und den sehr hellen
Augen der Westfalen, kein klassisch schönes aber ein angenehmes Gesicht, dem man
in guten Stunden, wie eben jetzt, nichts von Strenge und Altwcrden ansah.
Daneben der feine dunkelhaarige Frauenkopf, in den großen leuchtenden Augen
einen solchen Ausdruck von Güte und Mütterlichkeit, als wollten sie mit dem Reich¬
tum ihrer Liebe nicht nur die eignen Kinder, sondern all das sich ringsum tummelnde
kleine Volk umfassen. — So wenigstens dachte einer, der eben des Wegs dciher-
geschlendert kam und aussah wie der liebe strahlende Sommersonntag selbst.

Wo kommen Sie denn her, lieber Professor? fragte Maria arglos.

Heinrich zog die Augenbrauen hoch. Du, sag mal, Hans, wann gehst du denn
eigentlich in die Messe? Wir treffen dich ja jetzt niemals mehr?

Recklinghaus wollte auffahren, sich den Schulmeisterton verbitten, aber ein
bittender Blick Marias ließ ihn schweigen. Er klopfte den Freund auf die Schulter.

Mensch, frag mich nicht! Ich hatte so eine wunderfeine Melodie in den
Ohren, und der Sonnenschein und der Sonntagmorgen lockte. Da ließ ich mich
von Schiffer Rathgens hinaussegeln, weit, weit — bis wo nichts mehr war als
der blaue Himmel und das blaue Wasser. Und da lag ich lcmgaus im Boot,
rauchte meinen Tobak und ließ mir die Wellen was Vorsingen. Ein Lied, ein
Lied — Heinz, ich sage dir, du wirst staunen — ein Lied, das der Herrgott
selber an diesem wunderschönen Sonntagmorgen mir geschenkt hat.

Aber Hans, die Kirche . . .


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[0386] Heimatsehnsucht 21. Juni 1771 gab er, zu, daß sich die öffentlichen Schauspiele ganz und gar nicht für Städte und Örter schicken, wo junge Leute zum Dienst des Staates gebildet werden sollen, indem solche vielmehr der Jugend nur Anlaß gäben, Zeit und Geld unnützerweise zu verschwenden und die ans diesen Pflanzschulen so unumgänglich nötige gute Zucht zu stören. Er ordnete an, daß sich alle privilegierten Komödianten aller Vorstellung öffentlicher Schauspiele auf dero sämtlichen Universitäten und in deren Nachbarschaft künftighin schlechterdings enthalten sollten. So schlössen denn dank der Zähigkeit der Universität Halle zu derselben Zeit, wo in Wolfenbüttel Lessing seine „Emilia Galotti" schrieb, nochmals für mehrere Jahre die preußischen Universitätsstädte der deutschen Schaubühne ihre Tore. Heimatsehnsucht Iassy Torrn ut Novelle von (Fortsetzung) >n einem jener Spätsommertage voll überirdischer Klarheit, die der Norden seinen Kindern schenkt, kam das Ehepaar Sebaldus aus der Kirche und machte den gewohnten Spaziergang am Damm entlang. Die Kinder liefen vor ihnen her, hatten alle Taschen voll Semmeln und fütterten das ewig hungrige Möwenvolk. Die Eltern waren stehn geblieben und sahen dem fröhlichen Treiben zu — abgesehen von Marias augenblicklich etwas schwerfälligem Zustand ein stattliches Paar; er groß und breitschultrig, mit dem schlichten blonden Haar und den sehr hellen Augen der Westfalen, kein klassisch schönes aber ein angenehmes Gesicht, dem man in guten Stunden, wie eben jetzt, nichts von Strenge und Altwcrden ansah. Daneben der feine dunkelhaarige Frauenkopf, in den großen leuchtenden Augen einen solchen Ausdruck von Güte und Mütterlichkeit, als wollten sie mit dem Reich¬ tum ihrer Liebe nicht nur die eignen Kinder, sondern all das sich ringsum tummelnde kleine Volk umfassen. — So wenigstens dachte einer, der eben des Wegs dciher- geschlendert kam und aussah wie der liebe strahlende Sommersonntag selbst. Wo kommen Sie denn her, lieber Professor? fragte Maria arglos. Heinrich zog die Augenbrauen hoch. Du, sag mal, Hans, wann gehst du denn eigentlich in die Messe? Wir treffen dich ja jetzt niemals mehr? Recklinghaus wollte auffahren, sich den Schulmeisterton verbitten, aber ein bittender Blick Marias ließ ihn schweigen. Er klopfte den Freund auf die Schulter. Mensch, frag mich nicht! Ich hatte so eine wunderfeine Melodie in den Ohren, und der Sonnenschein und der Sonntagmorgen lockte. Da ließ ich mich von Schiffer Rathgens hinaussegeln, weit, weit — bis wo nichts mehr war als der blaue Himmel und das blaue Wasser. Und da lag ich lcmgaus im Boot, rauchte meinen Tobak und ließ mir die Wellen was Vorsingen. Ein Lied, ein Lied — Heinz, ich sage dir, du wirst staunen — ein Lied, das der Herrgott selber an diesem wunderschönen Sonntagmorgen mir geschenkt hat. Aber Hans, die Kirche . . .

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/386>, abgerufen am 29.04.2024.