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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Vor morgen Abend wirds dir wohl nicht möglich sein, erwiderte er, aber das
macht auch nichts, ich werde mich schon so lange gedulden.

Ich könnte ja gleich morgen früh Euern Freund, den Chaisenträger, bitten,
daß er Euch die Büchse brächte.

Der Alte machte eine abwehrende Handbewegung.

Nein nein! sagte er, lieber will ich warten. Auf zwölf Stunden früher oder
später kommts auch gar nicht an. Aber ich möchte, daß die Sache unter uns bliebe.
Es schien ihm offenbar viel daran zu liegen, daß Christine auch am nächsten Abend
ihren Besuch bei ihm wiederhole. Vielleicht versprach er sich von ihrer Gegenwart
einen heilsamem Einfluß auf seinen Zustand als von dem Wundermittel seiner
Hausapotheke (Fortsetzung folgt) .




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Reichsspiegel.

(Kolonialpolitik und Zentrum. Polendebatte.)

Die unerwartete Ausdehnung der Kolonialdebatte im Reichstage auf sechs
Verhandlungstage hat uns noch eine besondre Überraschung gebracht, die fast ver¬
nichtende Niederlage, die sich der Abgeordnete Roeren im Redekampf mit dem stell¬
vertretenden Kolontaldirektor Dernburg zugezogen hat. Es ist gar nicht zu leugnen,
daß die Wirkung, die davon auf die unmittelbaren Zuhörer ausging, dann aber durch
die Berichte in das Land hinausgetragen wurde, dem Gefühl der Befreiung von einem
bösen Alpdruck glich. Sehr erklärlich nach den Eindrücken, die man sonst von den
Verhandlungen des Reichstags nach Hause zu tragen nachgerade gewohnt war. Statt
des schleppenden Ganges und der schläfrigen Eintönigkeit der Debatten gewahrte
man Plötzlich so etwas wie dramatische Bewegung, erlebte man ein parlamentarisches
Gewitter, das sich in starken Schlägen entlud. Das war ganz danach angetan,
unbegrenzte Hoffnungen in sanguinisch angelegten Gemütern zu erwecken. Das
Stimmungspendel schlug über den Ruhepunkt hinaus.

Es ist nicht unwichtig, auch diese Augenblicksbilder ein wenig festzuhalten.
Zuerst machte sich nur die fassungslose Überraschung, Enttäuschung und Wut in
dem schwer getroffnen Zentrum und bei der radikalen Linken, die unverhvhlne
Freude und Genugtuung bei der kolonialfreundlichen Mehrheit bemerkbar. Dann
trat das Nachdenken in seine Rechte, aber -- so hieß es immer noch unter dem
Eindruck der ersten Erregung -- der Kolonialdirektor hat sich zu weit vorgewagt;
das Zentrum kann das nicht vergessen; der Reichskanzler wird Dernburg fallen
lassen, denn er wird es mit dem Zentrum nicht verderben wollen!

Man sieht daraus, wie wenig Raum in diesem Augenblick für kühle politische
Erwägungen war. Als dann Fürst Bülow das durch die Lage Gebotne tat und
mit großer Entschiedenheit sein Einverständnis mit dem Auftreten Dernburgs er¬
klärte, meinten die Beurteiler, die sich schon ganz durch die Vorstellung eines neu¬
geschaffnem Gegensatzes zwischen Regierung und Zentrum beherrschen ließen, diese
Erklärung habe doch nur die Bedeutung eines Rückzugs, denn es gehe nicht
daraus hervor, daß die Regierung mit dem Zentrum zu brechen entschlossen sei.

Es ist nicht recht verständlich, was überhaupt zu dieser Erwartung berechtigte.
Am allerwenigsten aber brauchte man sich die Freude daran verderben zu lassen,


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Vor morgen Abend wirds dir wohl nicht möglich sein, erwiderte er, aber das
macht auch nichts, ich werde mich schon so lange gedulden.

Ich könnte ja gleich morgen früh Euern Freund, den Chaisenträger, bitten,
daß er Euch die Büchse brächte.

Der Alte machte eine abwehrende Handbewegung.

Nein nein! sagte er, lieber will ich warten. Auf zwölf Stunden früher oder
später kommts auch gar nicht an. Aber ich möchte, daß die Sache unter uns bliebe.
Es schien ihm offenbar viel daran zu liegen, daß Christine auch am nächsten Abend
ihren Besuch bei ihm wiederhole. Vielleicht versprach er sich von ihrer Gegenwart
einen heilsamem Einfluß auf seinen Zustand als von dem Wundermittel seiner
Hausapotheke (Fortsetzung folgt) .




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Reichsspiegel.

(Kolonialpolitik und Zentrum. Polendebatte.)

Die unerwartete Ausdehnung der Kolonialdebatte im Reichstage auf sechs
Verhandlungstage hat uns noch eine besondre Überraschung gebracht, die fast ver¬
nichtende Niederlage, die sich der Abgeordnete Roeren im Redekampf mit dem stell¬
vertretenden Kolontaldirektor Dernburg zugezogen hat. Es ist gar nicht zu leugnen,
daß die Wirkung, die davon auf die unmittelbaren Zuhörer ausging, dann aber durch
die Berichte in das Land hinausgetragen wurde, dem Gefühl der Befreiung von einem
bösen Alpdruck glich. Sehr erklärlich nach den Eindrücken, die man sonst von den
Verhandlungen des Reichstags nach Hause zu tragen nachgerade gewohnt war. Statt
des schleppenden Ganges und der schläfrigen Eintönigkeit der Debatten gewahrte
man Plötzlich so etwas wie dramatische Bewegung, erlebte man ein parlamentarisches
Gewitter, das sich in starken Schlägen entlud. Das war ganz danach angetan,
unbegrenzte Hoffnungen in sanguinisch angelegten Gemütern zu erwecken. Das
Stimmungspendel schlug über den Ruhepunkt hinaus.

Es ist nicht unwichtig, auch diese Augenblicksbilder ein wenig festzuhalten.
Zuerst machte sich nur die fassungslose Überraschung, Enttäuschung und Wut in
dem schwer getroffnen Zentrum und bei der radikalen Linken, die unverhvhlne
Freude und Genugtuung bei der kolonialfreundlichen Mehrheit bemerkbar. Dann
trat das Nachdenken in seine Rechte, aber — so hieß es immer noch unter dem
Eindruck der ersten Erregung — der Kolonialdirektor hat sich zu weit vorgewagt;
das Zentrum kann das nicht vergessen; der Reichskanzler wird Dernburg fallen
lassen, denn er wird es mit dem Zentrum nicht verderben wollen!

Man sieht daraus, wie wenig Raum in diesem Augenblick für kühle politische
Erwägungen war. Als dann Fürst Bülow das durch die Lage Gebotne tat und
mit großer Entschiedenheit sein Einverständnis mit dem Auftreten Dernburgs er¬
klärte, meinten die Beurteiler, die sich schon ganz durch die Vorstellung eines neu¬
geschaffnem Gegensatzes zwischen Regierung und Zentrum beherrschen ließen, diese
Erklärung habe doch nur die Bedeutung eines Rückzugs, denn es gehe nicht
daraus hervor, daß die Regierung mit dem Zentrum zu brechen entschlossen sei.

Es ist nicht recht verständlich, was überhaupt zu dieser Erwartung berechtigte.
Am allerwenigsten aber brauchte man sich die Freude daran verderben zu lassen,


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[0626] Maßgebliches und Unmaßgebliches Vor morgen Abend wirds dir wohl nicht möglich sein, erwiderte er, aber das macht auch nichts, ich werde mich schon so lange gedulden. Ich könnte ja gleich morgen früh Euern Freund, den Chaisenträger, bitten, daß er Euch die Büchse brächte. Der Alte machte eine abwehrende Handbewegung. Nein nein! sagte er, lieber will ich warten. Auf zwölf Stunden früher oder später kommts auch gar nicht an. Aber ich möchte, daß die Sache unter uns bliebe. Es schien ihm offenbar viel daran zu liegen, daß Christine auch am nächsten Abend ihren Besuch bei ihm wiederhole. Vielleicht versprach er sich von ihrer Gegenwart einen heilsamem Einfluß auf seinen Zustand als von dem Wundermittel seiner Hausapotheke (Fortsetzung folgt) . Maßgebliches und Unmaßgebliches Reichsspiegel. (Kolonialpolitik und Zentrum. Polendebatte.) Die unerwartete Ausdehnung der Kolonialdebatte im Reichstage auf sechs Verhandlungstage hat uns noch eine besondre Überraschung gebracht, die fast ver¬ nichtende Niederlage, die sich der Abgeordnete Roeren im Redekampf mit dem stell¬ vertretenden Kolontaldirektor Dernburg zugezogen hat. Es ist gar nicht zu leugnen, daß die Wirkung, die davon auf die unmittelbaren Zuhörer ausging, dann aber durch die Berichte in das Land hinausgetragen wurde, dem Gefühl der Befreiung von einem bösen Alpdruck glich. Sehr erklärlich nach den Eindrücken, die man sonst von den Verhandlungen des Reichstags nach Hause zu tragen nachgerade gewohnt war. Statt des schleppenden Ganges und der schläfrigen Eintönigkeit der Debatten gewahrte man Plötzlich so etwas wie dramatische Bewegung, erlebte man ein parlamentarisches Gewitter, das sich in starken Schlägen entlud. Das war ganz danach angetan, unbegrenzte Hoffnungen in sanguinisch angelegten Gemütern zu erwecken. Das Stimmungspendel schlug über den Ruhepunkt hinaus. Es ist nicht unwichtig, auch diese Augenblicksbilder ein wenig festzuhalten. Zuerst machte sich nur die fassungslose Überraschung, Enttäuschung und Wut in dem schwer getroffnen Zentrum und bei der radikalen Linken, die unverhvhlne Freude und Genugtuung bei der kolonialfreundlichen Mehrheit bemerkbar. Dann trat das Nachdenken in seine Rechte, aber — so hieß es immer noch unter dem Eindruck der ersten Erregung — der Kolonialdirektor hat sich zu weit vorgewagt; das Zentrum kann das nicht vergessen; der Reichskanzler wird Dernburg fallen lassen, denn er wird es mit dem Zentrum nicht verderben wollen! Man sieht daraus, wie wenig Raum in diesem Augenblick für kühle politische Erwägungen war. Als dann Fürst Bülow das durch die Lage Gebotne tat und mit großer Entschiedenheit sein Einverständnis mit dem Auftreten Dernburgs er¬ klärte, meinten die Beurteiler, die sich schon ganz durch die Vorstellung eines neu¬ geschaffnem Gegensatzes zwischen Regierung und Zentrum beherrschen ließen, diese Erklärung habe doch nur die Bedeutung eines Rückzugs, denn es gehe nicht daraus hervor, daß die Regierung mit dem Zentrum zu brechen entschlossen sei. Es ist nicht recht verständlich, was überhaupt zu dieser Erwartung berechtigte. Am allerwenigsten aber brauchte man sich die Freude daran verderben zu lassen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/626>, abgerufen am 29.04.2024.