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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Skizzen aus dem heutigen Volksleben

den Ersten (1430), Sixtus den Fünften (1600) und die Bourbonen (1790 und
1826). Da machte sich 1854 der reiche Fürst Alessandro Torlonia. der Gro߬
vater des jetzt "regierenden", mit drei französischen Ingenieuren an die Arbeit.
Gegen die Zusicherung, daß die trockengelegten Gründe in sein Eigentum über¬
gehn sollten, riskierte er nicht nur sein Vermögen, sein und seines Hauses Gluck
und Bestand, er stellte auch sein ganzes Leben in den Dienst dieser einen
großen Idee.




Skizzen aus dem heutigen Volksleben
Fritz Anders von
Vierte Reihe
^. Der Verein für rationelle und künstlerische 'Körperkultur

le Herr Sigismund Kräutlein eigentlich auf seine so eminent wichtige
Idee gekommen ist, ist ihm später selbst nicht klar gewesen. Sie
war da, sie verkörperte sich, sie nahm eine imperative Gestalt an.
Und dieser Imperativ befahl: Halte dich für berufen, die Welt vom
Hackengange zum Zehengange zu bekehren. Wohl erinnerte er sich
aus seiner Kinderstube, daß seine selige Frau Mama, wenn er mit
den Absätzen hart aufgetreten war, sagte: Nicht doch, Sigismund, artige Kiuder
treten immer mit den Zehen ans. Als artiger Sohn hatte er es auch versucht,
aber es war ihm nie gelungen, wenigstens auf die Dauer nicht. Nun war er
einmal vom Strande der italienischen Küste den steilen Weg nach Sorrent hinauf¬
gestiegen, und vor ihm war eine dicke Italienerin, die noch dazu einen Korb
auf dem Kopfe trug, einhergegangen -- im Zehengange, leicht und mühelos, als
wenn sie an sich selbst und an dem Korbe nichts zu trage" gehabt hätte. Und
dann hatte er irgendwo einmal einen Aufsah über den Gegenstand gelesen, und
dann hatte es eiues Tages vor seiner Seele gestanden: der Zehengang! der
Zehengang!

Es handelte sich um folgendes: Wenn man den Fuß beim Gehen niedersetzt,
so kann das entweder so geschehen, daß man den Hacken zuerst mit dem Boden in
Berührung bringt und baun erst bei fortschreitender Bewegung die Zehen folgen
laßt -- Hcickeugcmg --, oder so, daß mau mit Zehen und Fußballen das Gewicht
des Körpers auffängt und dann erst den Hacken niedersetzt -- Zehengang. Nun
könnte jemand sagen: Das ist ja ganz egal; ein jeder gehe, wie es ihm bequem ist.
Aber kann dieser EinWurf nicht jeder Erziehung zum Bessern gemacht werden? Ist
man nicht verpflichtet, das zu tun, was nicht allein naturgemäß ist, sondern auch
den Forderungen der Schönheit und der Moral entspricht? Daß dies der Zehen¬
gang sei, das ist es, was sich Herrn Sigismund Kräutlein als Offenbarung darbot.
Wir sagten schon, daß es ihm im Anfange nicht klar war, warum er sich für den
Zehengang entschieden habe, aber nachdem er es getan hatte, wurde es ihm zur un¬
erschütterlichen Gewißheit, daß nur der Zehengang Daseinsberechtigung habe, und
daß das Wohl und Wehe der Menschheit vou dieser so vernachlässigten Frage abhänge.

Herr Sigismund Kräutlein war ein Mann von großer Zähigkeit des Willens,
und er hatte Zeit. Denn er war Mitinhaber einer großen Schuhscnkelfabrik, rin


Skizzen aus dem heutigen Volksleben

den Ersten (1430), Sixtus den Fünften (1600) und die Bourbonen (1790 und
1826). Da machte sich 1854 der reiche Fürst Alessandro Torlonia. der Gro߬
vater des jetzt „regierenden", mit drei französischen Ingenieuren an die Arbeit.
Gegen die Zusicherung, daß die trockengelegten Gründe in sein Eigentum über¬
gehn sollten, riskierte er nicht nur sein Vermögen, sein und seines Hauses Gluck
und Bestand, er stellte auch sein ganzes Leben in den Dienst dieser einen
großen Idee.




Skizzen aus dem heutigen Volksleben
Fritz Anders von
Vierte Reihe
^. Der Verein für rationelle und künstlerische 'Körperkultur

le Herr Sigismund Kräutlein eigentlich auf seine so eminent wichtige
Idee gekommen ist, ist ihm später selbst nicht klar gewesen. Sie
war da, sie verkörperte sich, sie nahm eine imperative Gestalt an.
Und dieser Imperativ befahl: Halte dich für berufen, die Welt vom
Hackengange zum Zehengange zu bekehren. Wohl erinnerte er sich
aus seiner Kinderstube, daß seine selige Frau Mama, wenn er mit
den Absätzen hart aufgetreten war, sagte: Nicht doch, Sigismund, artige Kiuder
treten immer mit den Zehen ans. Als artiger Sohn hatte er es auch versucht,
aber es war ihm nie gelungen, wenigstens auf die Dauer nicht. Nun war er
einmal vom Strande der italienischen Küste den steilen Weg nach Sorrent hinauf¬
gestiegen, und vor ihm war eine dicke Italienerin, die noch dazu einen Korb
auf dem Kopfe trug, einhergegangen — im Zehengange, leicht und mühelos, als
wenn sie an sich selbst und an dem Korbe nichts zu trage» gehabt hätte. Und
dann hatte er irgendwo einmal einen Aufsah über den Gegenstand gelesen, und
dann hatte es eiues Tages vor seiner Seele gestanden: der Zehengang! der
Zehengang!

Es handelte sich um folgendes: Wenn man den Fuß beim Gehen niedersetzt,
so kann das entweder so geschehen, daß man den Hacken zuerst mit dem Boden in
Berührung bringt und baun erst bei fortschreitender Bewegung die Zehen folgen
laßt — Hcickeugcmg —, oder so, daß mau mit Zehen und Fußballen das Gewicht
des Körpers auffängt und dann erst den Hacken niedersetzt — Zehengang. Nun
könnte jemand sagen: Das ist ja ganz egal; ein jeder gehe, wie es ihm bequem ist.
Aber kann dieser EinWurf nicht jeder Erziehung zum Bessern gemacht werden? Ist
man nicht verpflichtet, das zu tun, was nicht allein naturgemäß ist, sondern auch
den Forderungen der Schönheit und der Moral entspricht? Daß dies der Zehen¬
gang sei, das ist es, was sich Herrn Sigismund Kräutlein als Offenbarung darbot.
Wir sagten schon, daß es ihm im Anfange nicht klar war, warum er sich für den
Zehengang entschieden habe, aber nachdem er es getan hatte, wurde es ihm zur un¬
erschütterlichen Gewißheit, daß nur der Zehengang Daseinsberechtigung habe, und
daß das Wohl und Wehe der Menschheit vou dieser so vernachlässigten Frage abhänge.

Herr Sigismund Kräutlein war ein Mann von großer Zähigkeit des Willens,
und er hatte Zeit. Denn er war Mitinhaber einer großen Schuhscnkelfabrik, rin


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[0117] Skizzen aus dem heutigen Volksleben den Ersten (1430), Sixtus den Fünften (1600) und die Bourbonen (1790 und 1826). Da machte sich 1854 der reiche Fürst Alessandro Torlonia. der Gro߬ vater des jetzt „regierenden", mit drei französischen Ingenieuren an die Arbeit. Gegen die Zusicherung, daß die trockengelegten Gründe in sein Eigentum über¬ gehn sollten, riskierte er nicht nur sein Vermögen, sein und seines Hauses Gluck und Bestand, er stellte auch sein ganzes Leben in den Dienst dieser einen großen Idee. Skizzen aus dem heutigen Volksleben Fritz Anders von Vierte Reihe ^. Der Verein für rationelle und künstlerische 'Körperkultur le Herr Sigismund Kräutlein eigentlich auf seine so eminent wichtige Idee gekommen ist, ist ihm später selbst nicht klar gewesen. Sie war da, sie verkörperte sich, sie nahm eine imperative Gestalt an. Und dieser Imperativ befahl: Halte dich für berufen, die Welt vom Hackengange zum Zehengange zu bekehren. Wohl erinnerte er sich aus seiner Kinderstube, daß seine selige Frau Mama, wenn er mit den Absätzen hart aufgetreten war, sagte: Nicht doch, Sigismund, artige Kiuder treten immer mit den Zehen ans. Als artiger Sohn hatte er es auch versucht, aber es war ihm nie gelungen, wenigstens auf die Dauer nicht. Nun war er einmal vom Strande der italienischen Küste den steilen Weg nach Sorrent hinauf¬ gestiegen, und vor ihm war eine dicke Italienerin, die noch dazu einen Korb auf dem Kopfe trug, einhergegangen — im Zehengange, leicht und mühelos, als wenn sie an sich selbst und an dem Korbe nichts zu trage» gehabt hätte. Und dann hatte er irgendwo einmal einen Aufsah über den Gegenstand gelesen, und dann hatte es eiues Tages vor seiner Seele gestanden: der Zehengang! der Zehengang! Es handelte sich um folgendes: Wenn man den Fuß beim Gehen niedersetzt, so kann das entweder so geschehen, daß man den Hacken zuerst mit dem Boden in Berührung bringt und baun erst bei fortschreitender Bewegung die Zehen folgen laßt — Hcickeugcmg —, oder so, daß mau mit Zehen und Fußballen das Gewicht des Körpers auffängt und dann erst den Hacken niedersetzt — Zehengang. Nun könnte jemand sagen: Das ist ja ganz egal; ein jeder gehe, wie es ihm bequem ist. Aber kann dieser EinWurf nicht jeder Erziehung zum Bessern gemacht werden? Ist man nicht verpflichtet, das zu tun, was nicht allein naturgemäß ist, sondern auch den Forderungen der Schönheit und der Moral entspricht? Daß dies der Zehen¬ gang sei, das ist es, was sich Herrn Sigismund Kräutlein als Offenbarung darbot. Wir sagten schon, daß es ihm im Anfange nicht klar war, warum er sich für den Zehengang entschieden habe, aber nachdem er es getan hatte, wurde es ihm zur un¬ erschütterlichen Gewißheit, daß nur der Zehengang Daseinsberechtigung habe, und daß das Wohl und Wehe der Menschheit vou dieser so vernachlässigten Frage abhänge. Herr Sigismund Kräutlein war ein Mann von großer Zähigkeit des Willens, und er hatte Zeit. Denn er war Mitinhaber einer großen Schuhscnkelfabrik, rin

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/117>, abgerufen am 02.05.2024.