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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Gefühl, irgend etwas Blinkendes, Gleißendes vom Erdboden aufgenommen zu haben,
das sich dann unvermittelt in ihrer Hand in einen wertlosen Glasscherben ver¬
wandelte. Aber hatte sie denn nicht was andres, so viel schöneres und besseres
dafür weggeworfen oder doch unbeachtet liegen gelassen? Wie wirr sie der unge¬
wohnte Wein gemacht hat! Wie ihr Kopf schmerzt! Ihr ist, als wäre weiß
Gott was zusammengestürzt, und im Grunde war doch eigentlich gar nichts aufgebaut
gewesen.

Die Tante, bei der eine Nachbarin gewacht hatte, bis Wine so überraschend
zeitig heimkam, schläft tief und fest die ganze Nacht. Nicht ein einzigesmal ruft
sie nach der Nichte. Diese aber flieht der Schlummer, der ihr wohltätiges Ver¬
gessen gebracht hätte, so ganz! >

(Fortsetzung folgt)




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Reichsspiegel.

(Die Eröffnung des Reichstags. Wahl des Präsidiums. Die
Zeugnispflicht der Abgeordneten.)

Am 19. Februar hat die erste Tagung des neuen Reichstags begonnen. Die
Eröffnung geschah mit besondrer Feierlichkeit durch den Kaiser persönlich. Es war
vorauszusehen, daß die Thronrede diesesmal nicht das gewöhnliche geschäftsmäßige
Gepräge tragen würde. Es waren außergewöhnliche Verhältnisse, denen der
Reichstag seine Zusammensetzung verdankte, und diesen Verhältnissen mußten auch
die Aufgaben angepaßt werden, die der neuen Vertretung des deutschen Volkes
gestellt wurden. Die Thronrede hat denn auch in ihren Eingangsworten offen
auf die besondre Bedeutung der letzten Wahlen Bezug genommen. "Aufgerufen
zur Entscheidung über einen Zwiespalt zwischen den verbündeten Regierungen und
der Mehrheit des vorigen Reichstags, hat das deutsche Volk bekundet, daß es Ehr
und Gut der Nation ohne kleinlichen Parteigeist treu und fest gehütet wissen
will." So erscheint die nationale Aufgabe dieses Reichstags von vornherein fest¬
gelegt. Man darf jetzt wohl als sicher annehmen, daß Vorlagen, die geeignet
' sein könnten, die politischen Gegensätze zwischen den Parteien stärker hervorzukehren,
den Reichstag nicht beschäftigen werden. Es liegt dazu, wie wir an dieser Stelle
schon früher hervorgehoben haben, auch keine Veranlassung vor. Fragen der
Wehrkraft, der Ausbreitung und Sicherung unsrer Interessen außerhalb der Reichs¬
grenzen sind keine Parteifragen. Es muß endlich einmal begriffen werden, daß
auf diesem Gebiet Konservative und Liberale zusammengehn können und müssen,
wie es in andern Ländern auch möglich ist und längst geschieht. Es zeugt nur
von einem Tiefstande des politischen Verständnisses und von der Herrschaft eines
stumpfen Beharrungsvermögens in der Erfassung politischer Erscheinungen, wenn
das Wort des Reichskanzlers von der "Paarung konservativen und liberalen
Geistes" anch in Kreisen, die im eignen Interesse den Sinn dieser Wendung hätten
' begreifen sollen, zum Gegenstande billiger Witze gemacht worden ist. Dem Zentrum
und der Sozialdemokratie verzeiht man solche Scherze allenfalls -- als Ventil
"ihres ohnmächtigen Grolls. Um so mehr ist zu bedauern, daß auch andre, die
in ihren Parteikreisen eine gewisse Führerrolle beanspruchen, sich von dem alten


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Gefühl, irgend etwas Blinkendes, Gleißendes vom Erdboden aufgenommen zu haben,
das sich dann unvermittelt in ihrer Hand in einen wertlosen Glasscherben ver¬
wandelte. Aber hatte sie denn nicht was andres, so viel schöneres und besseres
dafür weggeworfen oder doch unbeachtet liegen gelassen? Wie wirr sie der unge¬
wohnte Wein gemacht hat! Wie ihr Kopf schmerzt! Ihr ist, als wäre weiß
Gott was zusammengestürzt, und im Grunde war doch eigentlich gar nichts aufgebaut
gewesen.

Die Tante, bei der eine Nachbarin gewacht hatte, bis Wine so überraschend
zeitig heimkam, schläft tief und fest die ganze Nacht. Nicht ein einzigesmal ruft
sie nach der Nichte. Diese aber flieht der Schlummer, der ihr wohltätiges Ver¬
gessen gebracht hätte, so ganz! >

(Fortsetzung folgt)




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Reichsspiegel.

(Die Eröffnung des Reichstags. Wahl des Präsidiums. Die
Zeugnispflicht der Abgeordneten.)

Am 19. Februar hat die erste Tagung des neuen Reichstags begonnen. Die
Eröffnung geschah mit besondrer Feierlichkeit durch den Kaiser persönlich. Es war
vorauszusehen, daß die Thronrede diesesmal nicht das gewöhnliche geschäftsmäßige
Gepräge tragen würde. Es waren außergewöhnliche Verhältnisse, denen der
Reichstag seine Zusammensetzung verdankte, und diesen Verhältnissen mußten auch
die Aufgaben angepaßt werden, die der neuen Vertretung des deutschen Volkes
gestellt wurden. Die Thronrede hat denn auch in ihren Eingangsworten offen
auf die besondre Bedeutung der letzten Wahlen Bezug genommen. „Aufgerufen
zur Entscheidung über einen Zwiespalt zwischen den verbündeten Regierungen und
der Mehrheit des vorigen Reichstags, hat das deutsche Volk bekundet, daß es Ehr
und Gut der Nation ohne kleinlichen Parteigeist treu und fest gehütet wissen
will." So erscheint die nationale Aufgabe dieses Reichstags von vornherein fest¬
gelegt. Man darf jetzt wohl als sicher annehmen, daß Vorlagen, die geeignet
' sein könnten, die politischen Gegensätze zwischen den Parteien stärker hervorzukehren,
den Reichstag nicht beschäftigen werden. Es liegt dazu, wie wir an dieser Stelle
schon früher hervorgehoben haben, auch keine Veranlassung vor. Fragen der
Wehrkraft, der Ausbreitung und Sicherung unsrer Interessen außerhalb der Reichs¬
grenzen sind keine Parteifragen. Es muß endlich einmal begriffen werden, daß
auf diesem Gebiet Konservative und Liberale zusammengehn können und müssen,
wie es in andern Ländern auch möglich ist und längst geschieht. Es zeugt nur
von einem Tiefstande des politischen Verständnisses und von der Herrschaft eines
stumpfen Beharrungsvermögens in der Erfassung politischer Erscheinungen, wenn
das Wort des Reichskanzlers von der „Paarung konservativen und liberalen
Geistes" anch in Kreisen, die im eignen Interesse den Sinn dieser Wendung hätten
' begreifen sollen, zum Gegenstande billiger Witze gemacht worden ist. Dem Zentrum
und der Sozialdemokratie verzeiht man solche Scherze allenfalls — als Ventil
"ihres ohnmächtigen Grolls. Um so mehr ist zu bedauern, daß auch andre, die
in ihren Parteikreisen eine gewisse Führerrolle beanspruchen, sich von dem alten


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[0499] Maßgebliches und Unmaßgebliches Gefühl, irgend etwas Blinkendes, Gleißendes vom Erdboden aufgenommen zu haben, das sich dann unvermittelt in ihrer Hand in einen wertlosen Glasscherben ver¬ wandelte. Aber hatte sie denn nicht was andres, so viel schöneres und besseres dafür weggeworfen oder doch unbeachtet liegen gelassen? Wie wirr sie der unge¬ wohnte Wein gemacht hat! Wie ihr Kopf schmerzt! Ihr ist, als wäre weiß Gott was zusammengestürzt, und im Grunde war doch eigentlich gar nichts aufgebaut gewesen. Die Tante, bei der eine Nachbarin gewacht hatte, bis Wine so überraschend zeitig heimkam, schläft tief und fest die ganze Nacht. Nicht ein einzigesmal ruft sie nach der Nichte. Diese aber flieht der Schlummer, der ihr wohltätiges Ver¬ gessen gebracht hätte, so ganz! > (Fortsetzung folgt) Maßgebliches und Unmaßgebliches Reichsspiegel. (Die Eröffnung des Reichstags. Wahl des Präsidiums. Die Zeugnispflicht der Abgeordneten.) Am 19. Februar hat die erste Tagung des neuen Reichstags begonnen. Die Eröffnung geschah mit besondrer Feierlichkeit durch den Kaiser persönlich. Es war vorauszusehen, daß die Thronrede diesesmal nicht das gewöhnliche geschäftsmäßige Gepräge tragen würde. Es waren außergewöhnliche Verhältnisse, denen der Reichstag seine Zusammensetzung verdankte, und diesen Verhältnissen mußten auch die Aufgaben angepaßt werden, die der neuen Vertretung des deutschen Volkes gestellt wurden. Die Thronrede hat denn auch in ihren Eingangsworten offen auf die besondre Bedeutung der letzten Wahlen Bezug genommen. „Aufgerufen zur Entscheidung über einen Zwiespalt zwischen den verbündeten Regierungen und der Mehrheit des vorigen Reichstags, hat das deutsche Volk bekundet, daß es Ehr und Gut der Nation ohne kleinlichen Parteigeist treu und fest gehütet wissen will." So erscheint die nationale Aufgabe dieses Reichstags von vornherein fest¬ gelegt. Man darf jetzt wohl als sicher annehmen, daß Vorlagen, die geeignet ' sein könnten, die politischen Gegensätze zwischen den Parteien stärker hervorzukehren, den Reichstag nicht beschäftigen werden. Es liegt dazu, wie wir an dieser Stelle schon früher hervorgehoben haben, auch keine Veranlassung vor. Fragen der Wehrkraft, der Ausbreitung und Sicherung unsrer Interessen außerhalb der Reichs¬ grenzen sind keine Parteifragen. Es muß endlich einmal begriffen werden, daß auf diesem Gebiet Konservative und Liberale zusammengehn können und müssen, wie es in andern Ländern auch möglich ist und längst geschieht. Es zeugt nur von einem Tiefstande des politischen Verständnisses und von der Herrschaft eines stumpfen Beharrungsvermögens in der Erfassung politischer Erscheinungen, wenn das Wort des Reichskanzlers von der „Paarung konservativen und liberalen Geistes" anch in Kreisen, die im eignen Interesse den Sinn dieser Wendung hätten ' begreifen sollen, zum Gegenstande billiger Witze gemacht worden ist. Dem Zentrum und der Sozialdemokratie verzeiht man solche Scherze allenfalls — als Ventil "ihres ohnmächtigen Grolls. Um so mehr ist zu bedauern, daß auch andre, die in ihren Parteikreisen eine gewisse Führerrolle beanspruchen, sich von dem alten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/499>, abgerufen am 02.05.2024.