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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Denisic, Pater Weiß und das evangelische Christentum

Auch Ihre Auffassung über die Zusammensetzung der ersten Kammer kann
ich nicht teilen. Man hat natürlich in einer gewissen ärgerlichen Verstimmung
zunächst erklärt, mau werde die Sache um ruhen lassen, und es könnte ein
Jahrzehnt vergehn, ehe sie wieder angefaßt würde. Hier kann man aber be¬
ruhigt sein. Die Verhältnisse sind viel mächtiger als die Menschen. Kommt
ein neues Wahlrecht zur zweiten Kammer, so wird die letzte, das ist die
zweite Kammer, selbst unbedingt auch auf eine Revision der ersten Kammer
dringen. Und der jetzige Minister des Innern hat ja völlig freie Hand, ist
durch keine Erklärung gebunden und wird gewiß, wenn er irgendeinen gang¬
baren Weg erkennt, diese ganze Frage der Zusammensetzung der Landstände
auf einmal und nach einem großen Plane zu ordnen gewillt sein.

Sie befürchten, daß eine sehr unliebsame Verstimmung zwischen Landwirt¬
schaft und Industrie durch die Kammerverhandlungen herbeigeführt worden sei
und sich bei deu nächsten Wahlen geltend machen werde. Ich teile diese Be¬
fürchtung nicht. Diese Verstimmung ist durch deu Bund der Industriellen und
die Hctzarbeit Einzelner schon längst vorhanden gewesen, soweit sie überhaupt
möglich war. Die Kammerverhandlungen haben aber gezeigt, daß auch noch
eine ganze Menge Landwirte berechtigte Forderungen der Industrie anerkennen,
und daß andrerseits viele Industrielle die weit über das Ziel hinausschießenden
Forderungen des Bundes der Industriellen nicht gutheißen.

Wenn Sie am Schlüsse Ihres Briefes den Wunsch aussprechen, ich sollte
doch selbst einmal, wenigstens Ihnen persönlich, meine Ansicht entwickeln, wie
ich mir die Ausgestaltung der Volksvertretung in Sachsen für die nächsten
Jahrzehnte denke, so ist die Erfüllung dieses Wunsches für mich sehr verlockend,
schon weil es mir ungemein interessant wäre, Ihr Urteil über meine An-
schauungen zu hören. Zum Niederschreiben der Ideen über einen so schwie¬
rigen Gegenstand gehört aber selbst dann, wenn man sich im Geiste ein klares
Bild von der Beantwortung der wichtigsten einschlägigen Fragen gemacht hat,
Ruhe und Zeit. Beides habe ich jetzt sehr wenig. Vielleicht komme ich im
Laufe des Sommers dazu. Für heute sage ich Ihnen herzliches Lebewohl.


Germanicus


Denifle, Pater Weiß und das evangelische Christentum

änuer, die auf grundverschiednen Standpunkten stehn, können ein¬
ander, als rechtschaffne Charaktere, persönlich hochschätzen, aber
sie können sich nicht theoretisch verständigen. Es gibt nun keine
zwei Standpunkte, die durch einen unüberbrückbarem Abgrund
voneinander geschieden wären, als der Orthodoxismus und das
moderne Denken und Fühlen, darum hat es weder Sinn noch Zweck, wenn
ein Orthodoxer und ein Moderner miteinander disputieren: sie versteh" einander


Denisic, Pater Weiß und das evangelische Christentum

Auch Ihre Auffassung über die Zusammensetzung der ersten Kammer kann
ich nicht teilen. Man hat natürlich in einer gewissen ärgerlichen Verstimmung
zunächst erklärt, mau werde die Sache um ruhen lassen, und es könnte ein
Jahrzehnt vergehn, ehe sie wieder angefaßt würde. Hier kann man aber be¬
ruhigt sein. Die Verhältnisse sind viel mächtiger als die Menschen. Kommt
ein neues Wahlrecht zur zweiten Kammer, so wird die letzte, das ist die
zweite Kammer, selbst unbedingt auch auf eine Revision der ersten Kammer
dringen. Und der jetzige Minister des Innern hat ja völlig freie Hand, ist
durch keine Erklärung gebunden und wird gewiß, wenn er irgendeinen gang¬
baren Weg erkennt, diese ganze Frage der Zusammensetzung der Landstände
auf einmal und nach einem großen Plane zu ordnen gewillt sein.

Sie befürchten, daß eine sehr unliebsame Verstimmung zwischen Landwirt¬
schaft und Industrie durch die Kammerverhandlungen herbeigeführt worden sei
und sich bei deu nächsten Wahlen geltend machen werde. Ich teile diese Be¬
fürchtung nicht. Diese Verstimmung ist durch deu Bund der Industriellen und
die Hctzarbeit Einzelner schon längst vorhanden gewesen, soweit sie überhaupt
möglich war. Die Kammerverhandlungen haben aber gezeigt, daß auch noch
eine ganze Menge Landwirte berechtigte Forderungen der Industrie anerkennen,
und daß andrerseits viele Industrielle die weit über das Ziel hinausschießenden
Forderungen des Bundes der Industriellen nicht gutheißen.

Wenn Sie am Schlüsse Ihres Briefes den Wunsch aussprechen, ich sollte
doch selbst einmal, wenigstens Ihnen persönlich, meine Ansicht entwickeln, wie
ich mir die Ausgestaltung der Volksvertretung in Sachsen für die nächsten
Jahrzehnte denke, so ist die Erfüllung dieses Wunsches für mich sehr verlockend,
schon weil es mir ungemein interessant wäre, Ihr Urteil über meine An-
schauungen zu hören. Zum Niederschreiben der Ideen über einen so schwie¬
rigen Gegenstand gehört aber selbst dann, wenn man sich im Geiste ein klares
Bild von der Beantwortung der wichtigsten einschlägigen Fragen gemacht hat,
Ruhe und Zeit. Beides habe ich jetzt sehr wenig. Vielleicht komme ich im
Laufe des Sommers dazu. Für heute sage ich Ihnen herzliches Lebewohl.


Germanicus


Denifle, Pater Weiß und das evangelische Christentum

änuer, die auf grundverschiednen Standpunkten stehn, können ein¬
ander, als rechtschaffne Charaktere, persönlich hochschätzen, aber
sie können sich nicht theoretisch verständigen. Es gibt nun keine
zwei Standpunkte, die durch einen unüberbrückbarem Abgrund
voneinander geschieden wären, als der Orthodoxismus und das
moderne Denken und Fühlen, darum hat es weder Sinn noch Zweck, wenn
ein Orthodoxer und ein Moderner miteinander disputieren: sie versteh« einander


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[0088] Denisic, Pater Weiß und das evangelische Christentum Auch Ihre Auffassung über die Zusammensetzung der ersten Kammer kann ich nicht teilen. Man hat natürlich in einer gewissen ärgerlichen Verstimmung zunächst erklärt, mau werde die Sache um ruhen lassen, und es könnte ein Jahrzehnt vergehn, ehe sie wieder angefaßt würde. Hier kann man aber be¬ ruhigt sein. Die Verhältnisse sind viel mächtiger als die Menschen. Kommt ein neues Wahlrecht zur zweiten Kammer, so wird die letzte, das ist die zweite Kammer, selbst unbedingt auch auf eine Revision der ersten Kammer dringen. Und der jetzige Minister des Innern hat ja völlig freie Hand, ist durch keine Erklärung gebunden und wird gewiß, wenn er irgendeinen gang¬ baren Weg erkennt, diese ganze Frage der Zusammensetzung der Landstände auf einmal und nach einem großen Plane zu ordnen gewillt sein. Sie befürchten, daß eine sehr unliebsame Verstimmung zwischen Landwirt¬ schaft und Industrie durch die Kammerverhandlungen herbeigeführt worden sei und sich bei deu nächsten Wahlen geltend machen werde. Ich teile diese Be¬ fürchtung nicht. Diese Verstimmung ist durch deu Bund der Industriellen und die Hctzarbeit Einzelner schon längst vorhanden gewesen, soweit sie überhaupt möglich war. Die Kammerverhandlungen haben aber gezeigt, daß auch noch eine ganze Menge Landwirte berechtigte Forderungen der Industrie anerkennen, und daß andrerseits viele Industrielle die weit über das Ziel hinausschießenden Forderungen des Bundes der Industriellen nicht gutheißen. Wenn Sie am Schlüsse Ihres Briefes den Wunsch aussprechen, ich sollte doch selbst einmal, wenigstens Ihnen persönlich, meine Ansicht entwickeln, wie ich mir die Ausgestaltung der Volksvertretung in Sachsen für die nächsten Jahrzehnte denke, so ist die Erfüllung dieses Wunsches für mich sehr verlockend, schon weil es mir ungemein interessant wäre, Ihr Urteil über meine An- schauungen zu hören. Zum Niederschreiben der Ideen über einen so schwie¬ rigen Gegenstand gehört aber selbst dann, wenn man sich im Geiste ein klares Bild von der Beantwortung der wichtigsten einschlägigen Fragen gemacht hat, Ruhe und Zeit. Beides habe ich jetzt sehr wenig. Vielleicht komme ich im Laufe des Sommers dazu. Für heute sage ich Ihnen herzliches Lebewohl. Germanicus Denifle, Pater Weiß und das evangelische Christentum änuer, die auf grundverschiednen Standpunkten stehn, können ein¬ ander, als rechtschaffne Charaktere, persönlich hochschätzen, aber sie können sich nicht theoretisch verständigen. Es gibt nun keine zwei Standpunkte, die durch einen unüberbrückbarem Abgrund voneinander geschieden wären, als der Orthodoxismus und das moderne Denken und Fühlen, darum hat es weder Sinn noch Zweck, wenn ein Orthodoxer und ein Moderner miteinander disputieren: sie versteh« einander

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/88>, abgerufen am 02.05.2024.