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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Die österreichischen Reichsratswahlen
Julius Patzelt i vonn

s gehört zur Tradition österreichischer Regierungskunst, unbequeme
Fragen nicht zu lösen, sondern beiseite zu schieben, auch wenn
dadurch andres neue Schwierigkeiten geschaffen werden/ Als unter
dein letzten Ministerium Ganthas die nationalen Gegensätze das
--! österreichische Abgeordnetenhaus wieder arbeitsunfähig zu macheu
^dem, hörte man plötzlich vom Regierungstisch aus verkünden, daß die Ein-
^Mng des allgemeine" und gleichen Wahlrechts unvermeidlich geworden sei;
"e letzten Jahre hätten gezeigt, daß in dem Klassenparlamente die nationalen
des ^ " immer in dem Vordergrunde stünden, durch die Demokratisierung
e Wahlrechts aber würden die sozialen Fragen vorangestellt und damit der
parlamentarische Boden wieder fruchtbar gemacht werden. Alle einsichtigen
ente schüttelten damals bedenklich den Kopf und rieten von einem Experiment
- das die nationalen Streitfragen nicht nur nicht aus dem österreichischen
.^chsrate ausschalten, sondern ihnen im Gegenteil noch ein neues zersetzendes
6'erneut hinzufügen würde. Besonders in deutschen Kreisen sträubte man sich
i^gen die geplante Wahlreform, von der man fürchtete, daß sie dem österreichischen
Deutschtum eine starke Einbuße an seiner politischen und nationalen Macht¬
stellung bringen werde. Aber alle Warnungen und Beschwörungen waren
^'ergeblich, die Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts wurde
beschlossen, frohen Mutes zogen die bürgerlichen Parteien und die Negierung
^ den Kampf, die Hauptschlacht aber, die am 14. Mai geschlagen wurde, endete
"Ut einer Katastrophe.

Noch zwei Tage vor dem Hauptwahltage hatte der Kaiser einem hohen
Funktionär gegenüber die sichre Erwartung geäußert, daß bei den Wahlen wohl
'Acht viel mehr Sozialdemokraten gewählt werden würden, als im alten Ab¬
geordnetenhause saßen. Wie bitter wurde der greise Monarch enttäuscht! Im
alten Abgeordnetenhause zählte man im ganzen 11 sozialdemokratische Ab¬
geordnete, an, 14. Mai aber eroberten die Sozialdemokraten gleich im ersten
Ansturme 61 Mandate und kamen in mehr als 110 engere Wahlen, bei denen


Grenzboten II 1907 57


Die österreichischen Reichsratswahlen
Julius Patzelt i vonn

s gehört zur Tradition österreichischer Regierungskunst, unbequeme
Fragen nicht zu lösen, sondern beiseite zu schieben, auch wenn
dadurch andres neue Schwierigkeiten geschaffen werden/ Als unter
dein letzten Ministerium Ganthas die nationalen Gegensätze das
—! österreichische Abgeordnetenhaus wieder arbeitsunfähig zu macheu
^dem, hörte man plötzlich vom Regierungstisch aus verkünden, daß die Ein-
^Mng des allgemeine» und gleichen Wahlrechts unvermeidlich geworden sei;
"e letzten Jahre hätten gezeigt, daß in dem Klassenparlamente die nationalen
des ^ " immer in dem Vordergrunde stünden, durch die Demokratisierung
e Wahlrechts aber würden die sozialen Fragen vorangestellt und damit der
parlamentarische Boden wieder fruchtbar gemacht werden. Alle einsichtigen
ente schüttelten damals bedenklich den Kopf und rieten von einem Experiment
- das die nationalen Streitfragen nicht nur nicht aus dem österreichischen
.^chsrate ausschalten, sondern ihnen im Gegenteil noch ein neues zersetzendes
6'erneut hinzufügen würde. Besonders in deutschen Kreisen sträubte man sich
i^gen die geplante Wahlreform, von der man fürchtete, daß sie dem österreichischen
Deutschtum eine starke Einbuße an seiner politischen und nationalen Macht¬
stellung bringen werde. Aber alle Warnungen und Beschwörungen waren
^'ergeblich, die Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts wurde
beschlossen, frohen Mutes zogen die bürgerlichen Parteien und die Negierung
^ den Kampf, die Hauptschlacht aber, die am 14. Mai geschlagen wurde, endete
"Ut einer Katastrophe.

Noch zwei Tage vor dem Hauptwahltage hatte der Kaiser einem hohen
Funktionär gegenüber die sichre Erwartung geäußert, daß bei den Wahlen wohl
'Acht viel mehr Sozialdemokraten gewählt werden würden, als im alten Ab¬
geordnetenhause saßen. Wie bitter wurde der greise Monarch enttäuscht! Im
alten Abgeordnetenhause zählte man im ganzen 11 sozialdemokratische Ab¬
geordnete, an, 14. Mai aber eroberten die Sozialdemokraten gleich im ersten
Ansturme 61 Mandate und kamen in mehr als 110 engere Wahlen, bei denen


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[0445] [Abbildung] Die österreichischen Reichsratswahlen Julius Patzelt i vonn s gehört zur Tradition österreichischer Regierungskunst, unbequeme Fragen nicht zu lösen, sondern beiseite zu schieben, auch wenn dadurch andres neue Schwierigkeiten geschaffen werden/ Als unter dein letzten Ministerium Ganthas die nationalen Gegensätze das —! österreichische Abgeordnetenhaus wieder arbeitsunfähig zu macheu ^dem, hörte man plötzlich vom Regierungstisch aus verkünden, daß die Ein- ^Mng des allgemeine» und gleichen Wahlrechts unvermeidlich geworden sei; "e letzten Jahre hätten gezeigt, daß in dem Klassenparlamente die nationalen des ^ " immer in dem Vordergrunde stünden, durch die Demokratisierung e Wahlrechts aber würden die sozialen Fragen vorangestellt und damit der parlamentarische Boden wieder fruchtbar gemacht werden. Alle einsichtigen ente schüttelten damals bedenklich den Kopf und rieten von einem Experiment - das die nationalen Streitfragen nicht nur nicht aus dem österreichischen .^chsrate ausschalten, sondern ihnen im Gegenteil noch ein neues zersetzendes 6'erneut hinzufügen würde. Besonders in deutschen Kreisen sträubte man sich i^gen die geplante Wahlreform, von der man fürchtete, daß sie dem österreichischen Deutschtum eine starke Einbuße an seiner politischen und nationalen Macht¬ stellung bringen werde. Aber alle Warnungen und Beschwörungen waren ^'ergeblich, die Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts wurde beschlossen, frohen Mutes zogen die bürgerlichen Parteien und die Negierung ^ den Kampf, die Hauptschlacht aber, die am 14. Mai geschlagen wurde, endete "Ut einer Katastrophe. Noch zwei Tage vor dem Hauptwahltage hatte der Kaiser einem hohen Funktionär gegenüber die sichre Erwartung geäußert, daß bei den Wahlen wohl 'Acht viel mehr Sozialdemokraten gewählt werden würden, als im alten Ab¬ geordnetenhause saßen. Wie bitter wurde der greise Monarch enttäuscht! Im alten Abgeordnetenhause zählte man im ganzen 11 sozialdemokratische Ab¬ geordnete, an, 14. Mai aber eroberten die Sozialdemokraten gleich im ersten Ansturme 61 Mandate und kamen in mehr als 110 engere Wahlen, bei denen Grenzboten II 1907 57

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/445>, abgerufen am 02.05.2024.