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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Literarische Rundschau
Neue Bücher und neue Ausgaben -- Adolf Stein 1'

AM> s erscheint uns heute wie eine ferne Zeit und ist doch nur wenig
Jahrzehnte her, daß sich um das Kernerhaus in Weinsberg ein
Kreis schwäbischer Dichter gruppierte. Da war der praktische
Arzt Justinus Kerner als Hausherr, da war sein Vetter, der
! Professor Ludwig Uhland, der Oberkonsistorialrat Gustav Schwab,
der Oberamtsrichter Karl Mayer, der Pfarrer Eduard Mörike, der Gymnasial¬
professor Gustav Pfizer und der Oberst Alexander Graf von Württemberg --
lauter Männer, die den Beruf zum Dichten hatten und doch keine Schrift¬
steller von Beruf waren. Wo funde man heute ähnliches? Und gerade weil
sich nach dieser Richtung hin die Welt so verändert hat, erscheint diese fruchtbare
Zeit großen literarischen Lebens im engern Kreise des württembergischen Landes
uns schon so entlegen. Gewiß hat sich in diesem Königreich die Tradition
bewahrt, und Friedrich Theodor Bischer so gut wie Johann Georg Fischer,
Karl und Richard Weitbrecht, Eduard Paulus, der eben verstorbne, und mancher
andre blieben ihrem Amte treu, auch als Poeten. Sonst aber wirft heute
jeder, der mit einem Roman, einem Theaterstück oder einem Bande Lyrik Er¬
folg hatte, seinen erlernten Beruf beiseite und läßt sich als Schriftsteller nieder.
Es braucht kaum ausgeführt zu werden, welche Nachteile das für unser ganzes
Leben hat, und wie sehr dieser immer wiederholte Vorgang an der ungeheuern
literarischen Überproduktion unsrer Tage nicht nur, sondern insbesondre an dem
mangelnden Ausreifen vieler schöner Talente und ihrer innern Entfremdung
vom großen und kleinen Leben der Nation die Schuld trägt. Es erregt in
der Presse förmliches Erstaunen, wenn einmal von einem Dichter die Rede ist,
der echte Werke geschaffen hat und doch bis in ein hohes Alter oder gar bis
an den Tod einem bürgerlichen Beruf, einem praktischen Gewerbe nachgegangen
ist. So konnte man auch, als Max Eyes vor kurzem hochbetagt starb, immer
wieder als etwas besondres aufgeführt finden, daß er ein Ingenieur, und
zwar ein hervorragender, und zugleich ein Dichter gewesen sei. Was zur Zeit
jener Schwaben, zu der des Ministers Goethe, des Generalsuperintendenten
Herder, des Professors Schlegel, des Landgerichtsrath Immermann natürlich
war, erscheint der Gegenwart als eine merkwürdige, des Bestannens werte Er¬
scheinung.




Literarische Rundschau
Neue Bücher und neue Ausgaben — Adolf Stein 1'

AM> s erscheint uns heute wie eine ferne Zeit und ist doch nur wenig
Jahrzehnte her, daß sich um das Kernerhaus in Weinsberg ein
Kreis schwäbischer Dichter gruppierte. Da war der praktische
Arzt Justinus Kerner als Hausherr, da war sein Vetter, der
! Professor Ludwig Uhland, der Oberkonsistorialrat Gustav Schwab,
der Oberamtsrichter Karl Mayer, der Pfarrer Eduard Mörike, der Gymnasial¬
professor Gustav Pfizer und der Oberst Alexander Graf von Württemberg —
lauter Männer, die den Beruf zum Dichten hatten und doch keine Schrift¬
steller von Beruf waren. Wo funde man heute ähnliches? Und gerade weil
sich nach dieser Richtung hin die Welt so verändert hat, erscheint diese fruchtbare
Zeit großen literarischen Lebens im engern Kreise des württembergischen Landes
uns schon so entlegen. Gewiß hat sich in diesem Königreich die Tradition
bewahrt, und Friedrich Theodor Bischer so gut wie Johann Georg Fischer,
Karl und Richard Weitbrecht, Eduard Paulus, der eben verstorbne, und mancher
andre blieben ihrem Amte treu, auch als Poeten. Sonst aber wirft heute
jeder, der mit einem Roman, einem Theaterstück oder einem Bande Lyrik Er¬
folg hatte, seinen erlernten Beruf beiseite und läßt sich als Schriftsteller nieder.
Es braucht kaum ausgeführt zu werden, welche Nachteile das für unser ganzes
Leben hat, und wie sehr dieser immer wiederholte Vorgang an der ungeheuern
literarischen Überproduktion unsrer Tage nicht nur, sondern insbesondre an dem
mangelnden Ausreifen vieler schöner Talente und ihrer innern Entfremdung
vom großen und kleinen Leben der Nation die Schuld trägt. Es erregt in
der Presse förmliches Erstaunen, wenn einmal von einem Dichter die Rede ist,
der echte Werke geschaffen hat und doch bis in ein hohes Alter oder gar bis
an den Tod einem bürgerlichen Beruf, einem praktischen Gewerbe nachgegangen
ist. So konnte man auch, als Max Eyes vor kurzem hochbetagt starb, immer
wieder als etwas besondres aufgeführt finden, daß er ein Ingenieur, und
zwar ein hervorragender, und zugleich ein Dichter gewesen sei. Was zur Zeit
jener Schwaben, zu der des Ministers Goethe, des Generalsuperintendenten
Herder, des Professors Schlegel, des Landgerichtsrath Immermann natürlich
war, erscheint der Gegenwart als eine merkwürdige, des Bestannens werte Er¬
scheinung.


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[0464] [Abbildung] Literarische Rundschau Neue Bücher und neue Ausgaben — Adolf Stein 1' AM> s erscheint uns heute wie eine ferne Zeit und ist doch nur wenig Jahrzehnte her, daß sich um das Kernerhaus in Weinsberg ein Kreis schwäbischer Dichter gruppierte. Da war der praktische Arzt Justinus Kerner als Hausherr, da war sein Vetter, der ! Professor Ludwig Uhland, der Oberkonsistorialrat Gustav Schwab, der Oberamtsrichter Karl Mayer, der Pfarrer Eduard Mörike, der Gymnasial¬ professor Gustav Pfizer und der Oberst Alexander Graf von Württemberg — lauter Männer, die den Beruf zum Dichten hatten und doch keine Schrift¬ steller von Beruf waren. Wo funde man heute ähnliches? Und gerade weil sich nach dieser Richtung hin die Welt so verändert hat, erscheint diese fruchtbare Zeit großen literarischen Lebens im engern Kreise des württembergischen Landes uns schon so entlegen. Gewiß hat sich in diesem Königreich die Tradition bewahrt, und Friedrich Theodor Bischer so gut wie Johann Georg Fischer, Karl und Richard Weitbrecht, Eduard Paulus, der eben verstorbne, und mancher andre blieben ihrem Amte treu, auch als Poeten. Sonst aber wirft heute jeder, der mit einem Roman, einem Theaterstück oder einem Bande Lyrik Er¬ folg hatte, seinen erlernten Beruf beiseite und läßt sich als Schriftsteller nieder. Es braucht kaum ausgeführt zu werden, welche Nachteile das für unser ganzes Leben hat, und wie sehr dieser immer wiederholte Vorgang an der ungeheuern literarischen Überproduktion unsrer Tage nicht nur, sondern insbesondre an dem mangelnden Ausreifen vieler schöner Talente und ihrer innern Entfremdung vom großen und kleinen Leben der Nation die Schuld trägt. Es erregt in der Presse förmliches Erstaunen, wenn einmal von einem Dichter die Rede ist, der echte Werke geschaffen hat und doch bis in ein hohes Alter oder gar bis an den Tod einem bürgerlichen Beruf, einem praktischen Gewerbe nachgegangen ist. So konnte man auch, als Max Eyes vor kurzem hochbetagt starb, immer wieder als etwas besondres aufgeführt finden, daß er ein Ingenieur, und zwar ein hervorragender, und zugleich ein Dichter gewesen sei. Was zur Zeit jener Schwaben, zu der des Ministers Goethe, des Generalsuperintendenten Herder, des Professors Schlegel, des Landgerichtsrath Immermann natürlich war, erscheint der Gegenwart als eine merkwürdige, des Bestannens werte Er¬ scheinung.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/464>, abgerufen am 02.05.2024.