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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Falsche Ideale
Paul Büchner vonin

!er Naturalismus, der seit den achtziger Jahren unsre schöne
Literatur beherrscht, pflegt mit großer Selbstgefälligkeit zu be¬
haupten, er habe einen naturwissenschaftlichen Naturalismus in
die Dichtung hineingetragen, der allein eine moderne Auffassung
!des Menschen und des Menschenlebens ermögliche. Seine Ideen
seien der modernen Wissenschaft und dem Leben unsrer Tage entnommen. Man
darf nicht verkennen, daß der Naturalismus das Stoffgebiet unsrer schönen
Literatur wesentlich erweitert und soziale, sittliche und politische Angelegenheiten
in seinen Kreis gezogen hat, die unsre frühere Belletristik mit Stillschweigen
überging und unsre heutige Unterhaltungsliteratur, wie sie sich in Zeitungen,
Fnmilienblüttern und auf der Bühne breit macht, auch jetzt nicht zu berühren
wagt. Ob er uns aber wirklich die Ideen geschenkt hat, die unserm Leben neuen
Inhalt geben können, wollen wir näher untersuchen. Seine sozialen Theorien
gipfeln in dem Satze, der Mensch sei ein ausschließliches Produkt seines Milieus.
In dieser Auffassung des Lebens treffen die Naturalisten mit den Sozialisten
zusammen, die auch nnr die Einwirkung äußerer Verhältnisse auf den Menschen
gelten lassen. Zola hat eine lange Reihe von Romanen geschrieben, um darzu¬
tun, daß alle Formen des menschlichen Daseins das Erbe unsrer Vorfahren und
das Erzeugnis unsrer Umgebungen seien. In" Zusammenhang damit steht die
Vererbungstheorie. Was Naturforscher wie Darwin nur von der Körperwelt
behauptet haben, wird von den Naturalisten ohne weiteres auf das geistige
Gebiet ausgedehnt, obgleich unsre heutige Wissenschaft ausdrücklich sagt, daß sich
eine Vererbung hier nicht sicher nachweisen lasse.*) Diese Anschauungen sollten
eigentlich dazu führen, den Menschen als ein Herdentier zu betrachten, dessen
Eigenschaften und Fähigkeiten überall gleich sind, da sich die äußern Verhält¬
nisse immer wiederholen. Nichtsdestoweniger huldigt der Naturalismus einem
übertriebnen Jchkultus, der mit dem Adelsmcnschen Ibsens seinen Anfang nahm
und in dem Übermenschen Nietzsches seinen Höhepunkt erreichte.

Ein andrer Teil der naturalistischen Ideen ist sittlicher Art. Für die Ehe
fordern die Modernen die geistige Harmonie beider Teile. Ist diese nicht vor¬
handen, so soll eine Ehe nicht eingegangen oder, wenn sie schon besteht, auf-



Vgl. Wilhelm Wundt, Physiologische Psychologie. Leipzig. 1903. Bd. 3, S. 640sf.


Falsche Ideale
Paul Büchner vonin

!er Naturalismus, der seit den achtziger Jahren unsre schöne
Literatur beherrscht, pflegt mit großer Selbstgefälligkeit zu be¬
haupten, er habe einen naturwissenschaftlichen Naturalismus in
die Dichtung hineingetragen, der allein eine moderne Auffassung
!des Menschen und des Menschenlebens ermögliche. Seine Ideen
seien der modernen Wissenschaft und dem Leben unsrer Tage entnommen. Man
darf nicht verkennen, daß der Naturalismus das Stoffgebiet unsrer schönen
Literatur wesentlich erweitert und soziale, sittliche und politische Angelegenheiten
in seinen Kreis gezogen hat, die unsre frühere Belletristik mit Stillschweigen
überging und unsre heutige Unterhaltungsliteratur, wie sie sich in Zeitungen,
Fnmilienblüttern und auf der Bühne breit macht, auch jetzt nicht zu berühren
wagt. Ob er uns aber wirklich die Ideen geschenkt hat, die unserm Leben neuen
Inhalt geben können, wollen wir näher untersuchen. Seine sozialen Theorien
gipfeln in dem Satze, der Mensch sei ein ausschließliches Produkt seines Milieus.
In dieser Auffassung des Lebens treffen die Naturalisten mit den Sozialisten
zusammen, die auch nnr die Einwirkung äußerer Verhältnisse auf den Menschen
gelten lassen. Zola hat eine lange Reihe von Romanen geschrieben, um darzu¬
tun, daß alle Formen des menschlichen Daseins das Erbe unsrer Vorfahren und
das Erzeugnis unsrer Umgebungen seien. In« Zusammenhang damit steht die
Vererbungstheorie. Was Naturforscher wie Darwin nur von der Körperwelt
behauptet haben, wird von den Naturalisten ohne weiteres auf das geistige
Gebiet ausgedehnt, obgleich unsre heutige Wissenschaft ausdrücklich sagt, daß sich
eine Vererbung hier nicht sicher nachweisen lasse.*) Diese Anschauungen sollten
eigentlich dazu führen, den Menschen als ein Herdentier zu betrachten, dessen
Eigenschaften und Fähigkeiten überall gleich sind, da sich die äußern Verhält¬
nisse immer wiederholen. Nichtsdestoweniger huldigt der Naturalismus einem
übertriebnen Jchkultus, der mit dem Adelsmcnschen Ibsens seinen Anfang nahm
und in dem Übermenschen Nietzsches seinen Höhepunkt erreichte.

Ein andrer Teil der naturalistischen Ideen ist sittlicher Art. Für die Ehe
fordern die Modernen die geistige Harmonie beider Teile. Ist diese nicht vor¬
handen, so soll eine Ehe nicht eingegangen oder, wenn sie schon besteht, auf-



Vgl. Wilhelm Wundt, Physiologische Psychologie. Leipzig. 1903. Bd. 3, S. 640sf.
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[0083] [Abbildung] Falsche Ideale Paul Büchner vonin !er Naturalismus, der seit den achtziger Jahren unsre schöne Literatur beherrscht, pflegt mit großer Selbstgefälligkeit zu be¬ haupten, er habe einen naturwissenschaftlichen Naturalismus in die Dichtung hineingetragen, der allein eine moderne Auffassung !des Menschen und des Menschenlebens ermögliche. Seine Ideen seien der modernen Wissenschaft und dem Leben unsrer Tage entnommen. Man darf nicht verkennen, daß der Naturalismus das Stoffgebiet unsrer schönen Literatur wesentlich erweitert und soziale, sittliche und politische Angelegenheiten in seinen Kreis gezogen hat, die unsre frühere Belletristik mit Stillschweigen überging und unsre heutige Unterhaltungsliteratur, wie sie sich in Zeitungen, Fnmilienblüttern und auf der Bühne breit macht, auch jetzt nicht zu berühren wagt. Ob er uns aber wirklich die Ideen geschenkt hat, die unserm Leben neuen Inhalt geben können, wollen wir näher untersuchen. Seine sozialen Theorien gipfeln in dem Satze, der Mensch sei ein ausschließliches Produkt seines Milieus. In dieser Auffassung des Lebens treffen die Naturalisten mit den Sozialisten zusammen, die auch nnr die Einwirkung äußerer Verhältnisse auf den Menschen gelten lassen. Zola hat eine lange Reihe von Romanen geschrieben, um darzu¬ tun, daß alle Formen des menschlichen Daseins das Erbe unsrer Vorfahren und das Erzeugnis unsrer Umgebungen seien. In« Zusammenhang damit steht die Vererbungstheorie. Was Naturforscher wie Darwin nur von der Körperwelt behauptet haben, wird von den Naturalisten ohne weiteres auf das geistige Gebiet ausgedehnt, obgleich unsre heutige Wissenschaft ausdrücklich sagt, daß sich eine Vererbung hier nicht sicher nachweisen lasse.*) Diese Anschauungen sollten eigentlich dazu führen, den Menschen als ein Herdentier zu betrachten, dessen Eigenschaften und Fähigkeiten überall gleich sind, da sich die äußern Verhält¬ nisse immer wiederholen. Nichtsdestoweniger huldigt der Naturalismus einem übertriebnen Jchkultus, der mit dem Adelsmcnschen Ibsens seinen Anfang nahm und in dem Übermenschen Nietzsches seinen Höhepunkt erreichte. Ein andrer Teil der naturalistischen Ideen ist sittlicher Art. Für die Ehe fordern die Modernen die geistige Harmonie beider Teile. Ist diese nicht vor¬ handen, so soll eine Ehe nicht eingegangen oder, wenn sie schon besteht, auf- Vgl. Wilhelm Wundt, Physiologische Psychologie. Leipzig. 1903. Bd. 3, S. 640sf.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/83>, abgerufen am 02.05.2024.