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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Litcrmische Rundschau

noch einmal zu sagen, keineswegs im Znsammenrauben von Edelmetall oder in
dem Einfordern von Wucherzinsen äußert, und der sich, wie Weber hervorhebt,
immer das Geld zu verschaffen weiß, dessen er bedarf. Ist es nicht ganz offenbar,
daß die Vorsehung jene religiöse Erregung des sechzehnten Jahrhunderts zu
dem Zwecke erweckt und mit ihr ganze Völker ergriffen hat, um dadurch eine
großartige wirtschaftliche und technische Umgestaltung zu bewirken, die moderne
Welt zu schaffen? Ihre Seelen gedachten die Calvinisten zu retten, Millionen,
ja Milliarden Leibern, und damit natürlich auch den zugehörigen Seelen, haben
sie d Carl Jcntsch as irdische Leben ermöglicht.




Literarische Rundschau

s ist eine leider nicht zu bestreitende Tatsache, daß die Dichter
Deutschlands ein so geringes Interesse an den politischen Er¬
eignissen und Dingen im weitesten Sinne nehmen, wie keine
andre Gruppe geistig tätiger Menschen im Vaterland überhaupt.
Wenn mau von dem einen Ernst von Wildenbruch und etwa
"on Johannes Trojan, dem Redakteur des Kladderadatsch, absieht, so muß
man schon weit suchen, um Dichter zu finden, die selbst den größten Fragen
politischer, nationaler Entwicklung ein erkennbares, ihre Tiefen durchlenchtcndes
Interesse entgegenbringen. Werden dann einmal Versuche, gar Kollektivversuche
nach dieser Richtung gemacht, so kommen wunderbare Dinge zutage, wie
bei der Bewegung gegen die sogenannte Lex Heinze. Die Tradition ist jäh
abgebrochen. Wilhelm Jordan und Gnstcw Freytag haben keine Nachfolger
gehabt, und es ist deshalb heute ein recht wehmütiger Genuß, Dichterstimmen
ans frühern Jahren deutscher Entwicklung wieder lebendig zu machen, Dichter-
stimmcn von Männern, die nicht fern dem großen Leben der Nation und fremd
ihrer täglichen harten politischen Arbeit, so oder so in Gleichgiltigkeit oder gar
M dekadenter Nichtachtung lebten, sondern die mit jedem Atemzug nationaler
Erwartung und nationaler Enttäuschung mitjnbclten und mitzitterten. Es
kommt gar nicht darauf an. einen solchen Dichter, wie das etwa mit Herwegh
geschah.' auch einmal ordentlich zu überschätzen, wenn man mir einen hat.
Ferdinand Freiligrath war so einer, und sich das wieder gegenwärtig halten,
ist die schönste Freude, die uns ans der Beschäftigung mit seinen Werken heute
erblühen kann. Die wohlgeordnete Ausgabe, die Ludwig Schröder in der be¬
kannten trefflichen .wsseschen Klassikerbibliothek veranstaltet hat (Ferdinand
Freiligraths sämtliche Werke in zehn Bünden mit Bildnis usw. Leipzig, Max
Hesse), bietet dazu in bequemer Form und in noch nicht erreichter Vollständigkeit
Gelegenheit. Gewiß war auch Freiligrath kein Lyriker, der aus der Tiefe


Litcrmische Rundschau

noch einmal zu sagen, keineswegs im Znsammenrauben von Edelmetall oder in
dem Einfordern von Wucherzinsen äußert, und der sich, wie Weber hervorhebt,
immer das Geld zu verschaffen weiß, dessen er bedarf. Ist es nicht ganz offenbar,
daß die Vorsehung jene religiöse Erregung des sechzehnten Jahrhunderts zu
dem Zwecke erweckt und mit ihr ganze Völker ergriffen hat, um dadurch eine
großartige wirtschaftliche und technische Umgestaltung zu bewirken, die moderne
Welt zu schaffen? Ihre Seelen gedachten die Calvinisten zu retten, Millionen,
ja Milliarden Leibern, und damit natürlich auch den zugehörigen Seelen, haben
sie d Carl Jcntsch as irdische Leben ermöglicht.




Literarische Rundschau

s ist eine leider nicht zu bestreitende Tatsache, daß die Dichter
Deutschlands ein so geringes Interesse an den politischen Er¬
eignissen und Dingen im weitesten Sinne nehmen, wie keine
andre Gruppe geistig tätiger Menschen im Vaterland überhaupt.
Wenn mau von dem einen Ernst von Wildenbruch und etwa
"on Johannes Trojan, dem Redakteur des Kladderadatsch, absieht, so muß
man schon weit suchen, um Dichter zu finden, die selbst den größten Fragen
politischer, nationaler Entwicklung ein erkennbares, ihre Tiefen durchlenchtcndes
Interesse entgegenbringen. Werden dann einmal Versuche, gar Kollektivversuche
nach dieser Richtung gemacht, so kommen wunderbare Dinge zutage, wie
bei der Bewegung gegen die sogenannte Lex Heinze. Die Tradition ist jäh
abgebrochen. Wilhelm Jordan und Gnstcw Freytag haben keine Nachfolger
gehabt, und es ist deshalb heute ein recht wehmütiger Genuß, Dichterstimmen
ans frühern Jahren deutscher Entwicklung wieder lebendig zu machen, Dichter-
stimmcn von Männern, die nicht fern dem großen Leben der Nation und fremd
ihrer täglichen harten politischen Arbeit, so oder so in Gleichgiltigkeit oder gar
M dekadenter Nichtachtung lebten, sondern die mit jedem Atemzug nationaler
Erwartung und nationaler Enttäuschung mitjnbclten und mitzitterten. Es
kommt gar nicht darauf an. einen solchen Dichter, wie das etwa mit Herwegh
geschah.' auch einmal ordentlich zu überschätzen, wenn man mir einen hat.
Ferdinand Freiligrath war so einer, und sich das wieder gegenwärtig halten,
ist die schönste Freude, die uns ans der Beschäftigung mit seinen Werken heute
erblühen kann. Die wohlgeordnete Ausgabe, die Ludwig Schröder in der be¬
kannten trefflichen .wsseschen Klassikerbibliothek veranstaltet hat (Ferdinand
Freiligraths sämtliche Werke in zehn Bünden mit Bildnis usw. Leipzig, Max
Hesse), bietet dazu in bequemer Form und in noch nicht erreichter Vollständigkeit
Gelegenheit. Gewiß war auch Freiligrath kein Lyriker, der aus der Tiefe


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[0523] Litcrmische Rundschau noch einmal zu sagen, keineswegs im Znsammenrauben von Edelmetall oder in dem Einfordern von Wucherzinsen äußert, und der sich, wie Weber hervorhebt, immer das Geld zu verschaffen weiß, dessen er bedarf. Ist es nicht ganz offenbar, daß die Vorsehung jene religiöse Erregung des sechzehnten Jahrhunderts zu dem Zwecke erweckt und mit ihr ganze Völker ergriffen hat, um dadurch eine großartige wirtschaftliche und technische Umgestaltung zu bewirken, die moderne Welt zu schaffen? Ihre Seelen gedachten die Calvinisten zu retten, Millionen, ja Milliarden Leibern, und damit natürlich auch den zugehörigen Seelen, haben sie d Carl Jcntsch as irdische Leben ermöglicht. Literarische Rundschau s ist eine leider nicht zu bestreitende Tatsache, daß die Dichter Deutschlands ein so geringes Interesse an den politischen Er¬ eignissen und Dingen im weitesten Sinne nehmen, wie keine andre Gruppe geistig tätiger Menschen im Vaterland überhaupt. Wenn mau von dem einen Ernst von Wildenbruch und etwa "on Johannes Trojan, dem Redakteur des Kladderadatsch, absieht, so muß man schon weit suchen, um Dichter zu finden, die selbst den größten Fragen politischer, nationaler Entwicklung ein erkennbares, ihre Tiefen durchlenchtcndes Interesse entgegenbringen. Werden dann einmal Versuche, gar Kollektivversuche nach dieser Richtung gemacht, so kommen wunderbare Dinge zutage, wie bei der Bewegung gegen die sogenannte Lex Heinze. Die Tradition ist jäh abgebrochen. Wilhelm Jordan und Gnstcw Freytag haben keine Nachfolger gehabt, und es ist deshalb heute ein recht wehmütiger Genuß, Dichterstimmen ans frühern Jahren deutscher Entwicklung wieder lebendig zu machen, Dichter- stimmcn von Männern, die nicht fern dem großen Leben der Nation und fremd ihrer täglichen harten politischen Arbeit, so oder so in Gleichgiltigkeit oder gar M dekadenter Nichtachtung lebten, sondern die mit jedem Atemzug nationaler Erwartung und nationaler Enttäuschung mitjnbclten und mitzitterten. Es kommt gar nicht darauf an. einen solchen Dichter, wie das etwa mit Herwegh geschah.' auch einmal ordentlich zu überschätzen, wenn man mir einen hat. Ferdinand Freiligrath war so einer, und sich das wieder gegenwärtig halten, ist die schönste Freude, die uns ans der Beschäftigung mit seinen Werken heute erblühen kann. Die wohlgeordnete Ausgabe, die Ludwig Schröder in der be¬ kannten trefflichen .wsseschen Klassikerbibliothek veranstaltet hat (Ferdinand Freiligraths sämtliche Werke in zehn Bünden mit Bildnis usw. Leipzig, Max Hesse), bietet dazu in bequemer Form und in noch nicht erreichter Vollständigkeit Gelegenheit. Gewiß war auch Freiligrath kein Lyriker, der aus der Tiefe

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/523>, abgerufen am 29.04.2024.