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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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sozialpsychologische Lindrücke aus deutschen Großstädten

Solange der Vertrag vorhält, ist über Asien eine gewisse Ruhe ge¬
kommen. Eine Störung des Weltfriedens ist von daher nicht mehr zu be¬
fürchten. Eins ist jedoch immer zu berücksichtigen. Die Selbständigkeits¬
bewegung der asiatischen Völker macht Fortschritte. Sogar die Times erkennen
das an. Sie sagen: "Rußland wie jede europäische Macht muß sich jetzt
vergegenwärtigen, daß in Asien selbst jetzt neue Kräfte am Werke sind, mit
denen alle, die es angeht, weit mehr zu rechnen haben werden als in der
Vergangenheit." Das ist richtig. Die Geschichte Asiens wird sich wahr¬
scheinlich nach dieser Richtung entwickeln.

Am allerunbedingtesten bezieht es sich auf Japan. Das Land ist nicht
nur für sich selbst zu einer gesicherten Unabhängigkeit gelangt, sondern es steht
wegen seiner außerordentlich starken Übervölkerung -- das eigentliche Japan
ist weit dichter bevölkert als selbst England -- unter der unabweisbaren Not¬
wendigkeit einer umfassenden Auswanderung. Seinem Volke aber versperren
nicht nur die Vereinigten Staaten, sondern auch die britischen Kolonien in
Australien das Betreten des Bodens. Konflikte sind im Bereiche naher Mög¬
lichkeit. Bricht ein solcher mit England aus, so wird eine Revolutionierung
Indiens die schärfste Waffe sein, die Japan gegen England anwenden kann.
Die Inder werden sich auf japanische Hilfe verlassen und die Verlegenheit
Englands benutzen. Sie denken: was Japan gegen Rußland vermochte, das
können wir gegen das armeelose England erst recht. Daher hat England mit
Rußland einen teuern Vertrag abgeschlossen, der ihm im Norden und Westen
Ruhe schafft und auf absehbare Zeit die Notwendigkeit erspart, zu erproben,
welche aufreizende Wirkung das Erscheinen japanischer Regimenter in Pandschab
und in Bengalen hervorrufen könnte. Japan kann aus dem Vertrage die be¬
ginnende Lösung des Bündnisses mit England entnehmen.




Hozialpsychologische Gindrücke aus deutschen
Großstädten
öl'. Uarl Dieterich von

VT)cum wir uns den Gesamtton vergegenwärtigen, auf den das öffent¬
liche Leben in den wichtigsten deutschen Großstädten gestimmt ist,
aus welchen sozialen Elementen sich ihr Organismus aufbaut, und
wie diese Elemente miteinander gemischt sind, so werden wir je
nach Lage, Ursprung und Entwicklung der einzelnen Städte auch
heute noch, trotz der modernen gleichmachenden Kulturtünche, mehrere ganz ver-
schiedne Individualitäten, Charaktertypen erfassen, die sich in ihren Grundzügen
noch scharf voneinander absetzen. Freilich schwimmen diese Unterschiede nirgends


sozialpsychologische Lindrücke aus deutschen Großstädten

Solange der Vertrag vorhält, ist über Asien eine gewisse Ruhe ge¬
kommen. Eine Störung des Weltfriedens ist von daher nicht mehr zu be¬
fürchten. Eins ist jedoch immer zu berücksichtigen. Die Selbständigkeits¬
bewegung der asiatischen Völker macht Fortschritte. Sogar die Times erkennen
das an. Sie sagen: „Rußland wie jede europäische Macht muß sich jetzt
vergegenwärtigen, daß in Asien selbst jetzt neue Kräfte am Werke sind, mit
denen alle, die es angeht, weit mehr zu rechnen haben werden als in der
Vergangenheit." Das ist richtig. Die Geschichte Asiens wird sich wahr¬
scheinlich nach dieser Richtung entwickeln.

Am allerunbedingtesten bezieht es sich auf Japan. Das Land ist nicht
nur für sich selbst zu einer gesicherten Unabhängigkeit gelangt, sondern es steht
wegen seiner außerordentlich starken Übervölkerung — das eigentliche Japan
ist weit dichter bevölkert als selbst England — unter der unabweisbaren Not¬
wendigkeit einer umfassenden Auswanderung. Seinem Volke aber versperren
nicht nur die Vereinigten Staaten, sondern auch die britischen Kolonien in
Australien das Betreten des Bodens. Konflikte sind im Bereiche naher Mög¬
lichkeit. Bricht ein solcher mit England aus, so wird eine Revolutionierung
Indiens die schärfste Waffe sein, die Japan gegen England anwenden kann.
Die Inder werden sich auf japanische Hilfe verlassen und die Verlegenheit
Englands benutzen. Sie denken: was Japan gegen Rußland vermochte, das
können wir gegen das armeelose England erst recht. Daher hat England mit
Rußland einen teuern Vertrag abgeschlossen, der ihm im Norden und Westen
Ruhe schafft und auf absehbare Zeit die Notwendigkeit erspart, zu erproben,
welche aufreizende Wirkung das Erscheinen japanischer Regimenter in Pandschab
und in Bengalen hervorrufen könnte. Japan kann aus dem Vertrage die be¬
ginnende Lösung des Bündnisses mit England entnehmen.




Hozialpsychologische Gindrücke aus deutschen
Großstädten
öl'. Uarl Dieterich von

VT)cum wir uns den Gesamtton vergegenwärtigen, auf den das öffent¬
liche Leben in den wichtigsten deutschen Großstädten gestimmt ist,
aus welchen sozialen Elementen sich ihr Organismus aufbaut, und
wie diese Elemente miteinander gemischt sind, so werden wir je
nach Lage, Ursprung und Entwicklung der einzelnen Städte auch
heute noch, trotz der modernen gleichmachenden Kulturtünche, mehrere ganz ver-
schiedne Individualitäten, Charaktertypen erfassen, die sich in ihren Grundzügen
noch scharf voneinander absetzen. Freilich schwimmen diese Unterschiede nirgends


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[0131] sozialpsychologische Lindrücke aus deutschen Großstädten Solange der Vertrag vorhält, ist über Asien eine gewisse Ruhe ge¬ kommen. Eine Störung des Weltfriedens ist von daher nicht mehr zu be¬ fürchten. Eins ist jedoch immer zu berücksichtigen. Die Selbständigkeits¬ bewegung der asiatischen Völker macht Fortschritte. Sogar die Times erkennen das an. Sie sagen: „Rußland wie jede europäische Macht muß sich jetzt vergegenwärtigen, daß in Asien selbst jetzt neue Kräfte am Werke sind, mit denen alle, die es angeht, weit mehr zu rechnen haben werden als in der Vergangenheit." Das ist richtig. Die Geschichte Asiens wird sich wahr¬ scheinlich nach dieser Richtung entwickeln. Am allerunbedingtesten bezieht es sich auf Japan. Das Land ist nicht nur für sich selbst zu einer gesicherten Unabhängigkeit gelangt, sondern es steht wegen seiner außerordentlich starken Übervölkerung — das eigentliche Japan ist weit dichter bevölkert als selbst England — unter der unabweisbaren Not¬ wendigkeit einer umfassenden Auswanderung. Seinem Volke aber versperren nicht nur die Vereinigten Staaten, sondern auch die britischen Kolonien in Australien das Betreten des Bodens. Konflikte sind im Bereiche naher Mög¬ lichkeit. Bricht ein solcher mit England aus, so wird eine Revolutionierung Indiens die schärfste Waffe sein, die Japan gegen England anwenden kann. Die Inder werden sich auf japanische Hilfe verlassen und die Verlegenheit Englands benutzen. Sie denken: was Japan gegen Rußland vermochte, das können wir gegen das armeelose England erst recht. Daher hat England mit Rußland einen teuern Vertrag abgeschlossen, der ihm im Norden und Westen Ruhe schafft und auf absehbare Zeit die Notwendigkeit erspart, zu erproben, welche aufreizende Wirkung das Erscheinen japanischer Regimenter in Pandschab und in Bengalen hervorrufen könnte. Japan kann aus dem Vertrage die be¬ ginnende Lösung des Bündnisses mit England entnehmen. Hozialpsychologische Gindrücke aus deutschen Großstädten öl'. Uarl Dieterich von VT)cum wir uns den Gesamtton vergegenwärtigen, auf den das öffent¬ liche Leben in den wichtigsten deutschen Großstädten gestimmt ist, aus welchen sozialen Elementen sich ihr Organismus aufbaut, und wie diese Elemente miteinander gemischt sind, so werden wir je nach Lage, Ursprung und Entwicklung der einzelnen Städte auch heute noch, trotz der modernen gleichmachenden Kulturtünche, mehrere ganz ver- schiedne Individualitäten, Charaktertypen erfassen, die sich in ihren Grundzügen noch scharf voneinander absetzen. Freilich schwimmen diese Unterschiede nirgends

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/131>, abgerufen am 19.05.2024.