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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Österreich nach der Wahlreform

aß man mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts in
Österreich einen Sprung ins Dunkle machen würde, lag auf der
Hand. Man hat ihn vor vierzig Jahren im Norddeutschen Bunde
auch gemacht und hat weder damals wie 1871 im Deutschen
Reiche geahnt, daß nach einem Menschenalter über achtzig den
Staat verneinende Sozialdemokraten gewählt werden würden. Im Jahre 1867
lag freilich eine politische Notwendigkeit dazu vor, denn in dem Wettbewerb
um die Vormacht im Deutschen Bunde hatte Preußen, um Österreich mit seinem
Delegationsprojekt zu überbieten, auf die allgemeine Wahl von 1848 zurück¬
greifen müssen. Eine Notwendigkeit ähnlich zwingender Art lag bei der Ein¬
führung des allgemeinen Wahlrechts in Österreich nicht vor. Im Deutschen
Reich ist man damit noch immer leidlich ausgekommen, denn bisher hat stets
ein Appell der Regierung an die Bevölkerung bewirkt, daß an Stelle eines
den Neichsinteresscn widerstrebenden Reichstags ein rcichsfreuudlicher gewählt
wurde. Ernste Politiker -- und nicht etwa Scharfmacher oder Reaktionäre
nach der Redeweise der Demokraten -- haben sich aber schon mehrfach die
Frage vorgelegt, was dann werden müsse, wenn einmal der Ruf der Neichs-
regierung unwirksam verhallt. Daß das Reich nicht wegen der Verfassung
und des Wahlrechts, sondern diese wegen des Reichs geschaffen worden sind,
und danach die Notwendigkeit der Existenzberechtigung des einen und des
andern zu bemessen sein wird, steht wohl außer allem Zweifel. Hoffentlich
lernt das deutsche Volk nach und nach, einen vernünftigen Gebrauch von
seinem Wahlrecht zu machen, und überhebt dadurch die Reichsregierung der
peinlichen Notwendigkeit, Borkehrungen zu treffen für den Fall, daß einmal
infolge von unberechenbaren Wahlausfüllen der Mechanismus des Staates ins
Stocken gerät.

Die Erfahrungen, die Deutschland trotz seiner gebildeten Bevölkerung mit
dem allgemeinen Wahlrecht gemacht hat, hätten eigentlich andre Staaten von


Grenzboten IV 1907 22


Österreich nach der Wahlreform

aß man mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts in
Österreich einen Sprung ins Dunkle machen würde, lag auf der
Hand. Man hat ihn vor vierzig Jahren im Norddeutschen Bunde
auch gemacht und hat weder damals wie 1871 im Deutschen
Reiche geahnt, daß nach einem Menschenalter über achtzig den
Staat verneinende Sozialdemokraten gewählt werden würden. Im Jahre 1867
lag freilich eine politische Notwendigkeit dazu vor, denn in dem Wettbewerb
um die Vormacht im Deutschen Bunde hatte Preußen, um Österreich mit seinem
Delegationsprojekt zu überbieten, auf die allgemeine Wahl von 1848 zurück¬
greifen müssen. Eine Notwendigkeit ähnlich zwingender Art lag bei der Ein¬
führung des allgemeinen Wahlrechts in Österreich nicht vor. Im Deutschen
Reich ist man damit noch immer leidlich ausgekommen, denn bisher hat stets
ein Appell der Regierung an die Bevölkerung bewirkt, daß an Stelle eines
den Neichsinteresscn widerstrebenden Reichstags ein rcichsfreuudlicher gewählt
wurde. Ernste Politiker — und nicht etwa Scharfmacher oder Reaktionäre
nach der Redeweise der Demokraten — haben sich aber schon mehrfach die
Frage vorgelegt, was dann werden müsse, wenn einmal der Ruf der Neichs-
regierung unwirksam verhallt. Daß das Reich nicht wegen der Verfassung
und des Wahlrechts, sondern diese wegen des Reichs geschaffen worden sind,
und danach die Notwendigkeit der Existenzberechtigung des einen und des
andern zu bemessen sein wird, steht wohl außer allem Zweifel. Hoffentlich
lernt das deutsche Volk nach und nach, einen vernünftigen Gebrauch von
seinem Wahlrecht zu machen, und überhebt dadurch die Reichsregierung der
peinlichen Notwendigkeit, Borkehrungen zu treffen für den Fall, daß einmal
infolge von unberechenbaren Wahlausfüllen der Mechanismus des Staates ins
Stocken gerät.

Die Erfahrungen, die Deutschland trotz seiner gebildeten Bevölkerung mit
dem allgemeinen Wahlrecht gemacht hat, hätten eigentlich andre Staaten von


Grenzboten IV 1907 22
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[0173] [Abbildung] Österreich nach der Wahlreform aß man mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts in Österreich einen Sprung ins Dunkle machen würde, lag auf der Hand. Man hat ihn vor vierzig Jahren im Norddeutschen Bunde auch gemacht und hat weder damals wie 1871 im Deutschen Reiche geahnt, daß nach einem Menschenalter über achtzig den Staat verneinende Sozialdemokraten gewählt werden würden. Im Jahre 1867 lag freilich eine politische Notwendigkeit dazu vor, denn in dem Wettbewerb um die Vormacht im Deutschen Bunde hatte Preußen, um Österreich mit seinem Delegationsprojekt zu überbieten, auf die allgemeine Wahl von 1848 zurück¬ greifen müssen. Eine Notwendigkeit ähnlich zwingender Art lag bei der Ein¬ führung des allgemeinen Wahlrechts in Österreich nicht vor. Im Deutschen Reich ist man damit noch immer leidlich ausgekommen, denn bisher hat stets ein Appell der Regierung an die Bevölkerung bewirkt, daß an Stelle eines den Neichsinteresscn widerstrebenden Reichstags ein rcichsfreuudlicher gewählt wurde. Ernste Politiker — und nicht etwa Scharfmacher oder Reaktionäre nach der Redeweise der Demokraten — haben sich aber schon mehrfach die Frage vorgelegt, was dann werden müsse, wenn einmal der Ruf der Neichs- regierung unwirksam verhallt. Daß das Reich nicht wegen der Verfassung und des Wahlrechts, sondern diese wegen des Reichs geschaffen worden sind, und danach die Notwendigkeit der Existenzberechtigung des einen und des andern zu bemessen sein wird, steht wohl außer allem Zweifel. Hoffentlich lernt das deutsche Volk nach und nach, einen vernünftigen Gebrauch von seinem Wahlrecht zu machen, und überhebt dadurch die Reichsregierung der peinlichen Notwendigkeit, Borkehrungen zu treffen für den Fall, daß einmal infolge von unberechenbaren Wahlausfüllen der Mechanismus des Staates ins Stocken gerät. Die Erfahrungen, die Deutschland trotz seiner gebildeten Bevölkerung mit dem allgemeinen Wahlrecht gemacht hat, hätten eigentlich andre Staaten von Grenzboten IV 1907 22

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/173>, abgerufen am 18.05.2024.