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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Nationale politische Erziehung

die Regierung bis zu einem gewissen Grade erfolgreich im Gange ist, betrieben
von denen, die das Wort "Indien für die Jndier" zu ihrem Schiboleth oder
gar zu ihrem Kriegsruf gemacht haben. Offen wird die Revolution gepredigt,
und das allgemeine Empfinden, das durch das Land geht, beweist, daß der
tiefe Friede, der bisher hier geherrscht hat, ernstlich bedroht ist."

Die bekannt gewordnen Vorfälle aus der jüngsten Zeit, in Simla und
andern Orten, zeigen deutlich, daß, trotz aller Maßnahmen und Unterdrückungen
an einer Stelle, die Unruhen dank fortschreitender Aufhetzung der Massen durch
eine gewisse eingeborne Intelligenz an andrer Stelle und in immer bedroh¬
licherer Form von neuem losbrechen. Es muß daher auch als sehr zweifelhaft
augesehen werden, ob der unter dem Druck der Verhältnisse von der Regierung ^
bekannt gegebne Plan, außer den eingebornen Fürsten und Großgrundbesitzern
auch Vertreter von Handel und Industrie in gewissem Grade an der Verwaltung
des Landes teilnehmen zu lassen, noch imstande sein wird, die schon weit vor-
geschrittne nationaldemokratische Bewegung, namentlich im östlichen Punjab und
in Bengalen, aufzuhalten. Da ferner neuern Mitteilungen aus Indien zufolge
eine fortgesetzte Agitation im Sinne der Aufwieglung der Native-Truppen durch
überall in den Kasernen und Lagern verteilte Flugblätter sowie persönliche Ein¬
wirkung lebhaft im Gange ist, so ist die Gefahr, daß die britische Herrschaft,
wenn einmal der so gefürchtete Sturm losbricht, davon fortgerissen wird,
mindestens als eine sehr große anzusehen. Dem gegenüber würde es auch nur
wenig helfen, wenn wirklich das soeben unterzeichnete russisch-englische Abkommen,
dessen Wortlaut noch nicht vorliegt, für Großbritannien die russische Gefahr im
Hinblick auf Indien ganz beseitigen sollte, was vorläufig Wohl bezweifelt werden
darf -- abgesehen davon, daß elementare politische Ereignisse, wie die Welt¬
geschichte lehrt, sich oft als stärker und in ihren Folgen bedeutsamer erweisen
als der tote Buchstabe formaler Abmachungen.




Nationale politische Erziehung
Carl Negenborn von1

urch das Ergebnis der letzten Reichstagswahlen ist unsre politische
Lage völlig umgestaltet worden. Seit diesen Wahlen kann man
aus den Mitteilungen der Presse und aus schriftlichen und münd¬
lichen Äußerungen, die in die Öffentlichkeit kommen, heraushören
oder herausfühlen, denn deutlich ausgesprochen wird es nie, daß
uns etwas fehlt, daß unser öffentliches Leben um etwas Neues, noch nicht klar
Erkanntes bereichert werden muß, wenn wir das bei diesen Wahlen Gewonnene
nicht wieder einbüßen, wenn wir vorwärts kommen und das politische Leben


Nationale politische Erziehung

die Regierung bis zu einem gewissen Grade erfolgreich im Gange ist, betrieben
von denen, die das Wort »Indien für die Jndier« zu ihrem Schiboleth oder
gar zu ihrem Kriegsruf gemacht haben. Offen wird die Revolution gepredigt,
und das allgemeine Empfinden, das durch das Land geht, beweist, daß der
tiefe Friede, der bisher hier geherrscht hat, ernstlich bedroht ist."

Die bekannt gewordnen Vorfälle aus der jüngsten Zeit, in Simla und
andern Orten, zeigen deutlich, daß, trotz aller Maßnahmen und Unterdrückungen
an einer Stelle, die Unruhen dank fortschreitender Aufhetzung der Massen durch
eine gewisse eingeborne Intelligenz an andrer Stelle und in immer bedroh¬
licherer Form von neuem losbrechen. Es muß daher auch als sehr zweifelhaft
augesehen werden, ob der unter dem Druck der Verhältnisse von der Regierung ^
bekannt gegebne Plan, außer den eingebornen Fürsten und Großgrundbesitzern
auch Vertreter von Handel und Industrie in gewissem Grade an der Verwaltung
des Landes teilnehmen zu lassen, noch imstande sein wird, die schon weit vor-
geschrittne nationaldemokratische Bewegung, namentlich im östlichen Punjab und
in Bengalen, aufzuhalten. Da ferner neuern Mitteilungen aus Indien zufolge
eine fortgesetzte Agitation im Sinne der Aufwieglung der Native-Truppen durch
überall in den Kasernen und Lagern verteilte Flugblätter sowie persönliche Ein¬
wirkung lebhaft im Gange ist, so ist die Gefahr, daß die britische Herrschaft,
wenn einmal der so gefürchtete Sturm losbricht, davon fortgerissen wird,
mindestens als eine sehr große anzusehen. Dem gegenüber würde es auch nur
wenig helfen, wenn wirklich das soeben unterzeichnete russisch-englische Abkommen,
dessen Wortlaut noch nicht vorliegt, für Großbritannien die russische Gefahr im
Hinblick auf Indien ganz beseitigen sollte, was vorläufig Wohl bezweifelt werden
darf — abgesehen davon, daß elementare politische Ereignisse, wie die Welt¬
geschichte lehrt, sich oft als stärker und in ihren Folgen bedeutsamer erweisen
als der tote Buchstabe formaler Abmachungen.




Nationale politische Erziehung
Carl Negenborn von1

urch das Ergebnis der letzten Reichstagswahlen ist unsre politische
Lage völlig umgestaltet worden. Seit diesen Wahlen kann man
aus den Mitteilungen der Presse und aus schriftlichen und münd¬
lichen Äußerungen, die in die Öffentlichkeit kommen, heraushören
oder herausfühlen, denn deutlich ausgesprochen wird es nie, daß
uns etwas fehlt, daß unser öffentliches Leben um etwas Neues, noch nicht klar
Erkanntes bereichert werden muß, wenn wir das bei diesen Wahlen Gewonnene
nicht wieder einbüßen, wenn wir vorwärts kommen und das politische Leben


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[0022] Nationale politische Erziehung die Regierung bis zu einem gewissen Grade erfolgreich im Gange ist, betrieben von denen, die das Wort »Indien für die Jndier« zu ihrem Schiboleth oder gar zu ihrem Kriegsruf gemacht haben. Offen wird die Revolution gepredigt, und das allgemeine Empfinden, das durch das Land geht, beweist, daß der tiefe Friede, der bisher hier geherrscht hat, ernstlich bedroht ist." Die bekannt gewordnen Vorfälle aus der jüngsten Zeit, in Simla und andern Orten, zeigen deutlich, daß, trotz aller Maßnahmen und Unterdrückungen an einer Stelle, die Unruhen dank fortschreitender Aufhetzung der Massen durch eine gewisse eingeborne Intelligenz an andrer Stelle und in immer bedroh¬ licherer Form von neuem losbrechen. Es muß daher auch als sehr zweifelhaft augesehen werden, ob der unter dem Druck der Verhältnisse von der Regierung ^ bekannt gegebne Plan, außer den eingebornen Fürsten und Großgrundbesitzern auch Vertreter von Handel und Industrie in gewissem Grade an der Verwaltung des Landes teilnehmen zu lassen, noch imstande sein wird, die schon weit vor- geschrittne nationaldemokratische Bewegung, namentlich im östlichen Punjab und in Bengalen, aufzuhalten. Da ferner neuern Mitteilungen aus Indien zufolge eine fortgesetzte Agitation im Sinne der Aufwieglung der Native-Truppen durch überall in den Kasernen und Lagern verteilte Flugblätter sowie persönliche Ein¬ wirkung lebhaft im Gange ist, so ist die Gefahr, daß die britische Herrschaft, wenn einmal der so gefürchtete Sturm losbricht, davon fortgerissen wird, mindestens als eine sehr große anzusehen. Dem gegenüber würde es auch nur wenig helfen, wenn wirklich das soeben unterzeichnete russisch-englische Abkommen, dessen Wortlaut noch nicht vorliegt, für Großbritannien die russische Gefahr im Hinblick auf Indien ganz beseitigen sollte, was vorläufig Wohl bezweifelt werden darf — abgesehen davon, daß elementare politische Ereignisse, wie die Welt¬ geschichte lehrt, sich oft als stärker und in ihren Folgen bedeutsamer erweisen als der tote Buchstabe formaler Abmachungen. Nationale politische Erziehung Carl Negenborn von1 urch das Ergebnis der letzten Reichstagswahlen ist unsre politische Lage völlig umgestaltet worden. Seit diesen Wahlen kann man aus den Mitteilungen der Presse und aus schriftlichen und münd¬ lichen Äußerungen, die in die Öffentlichkeit kommen, heraushören oder herausfühlen, denn deutlich ausgesprochen wird es nie, daß uns etwas fehlt, daß unser öffentliches Leben um etwas Neues, noch nicht klar Erkanntes bereichert werden muß, wenn wir das bei diesen Wahlen Gewonnene nicht wieder einbüßen, wenn wir vorwärts kommen und das politische Leben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/22>, abgerufen am 26.05.2024.