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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Persien

abspielt, geht auch in allen andern Lebensangelegenheiten der Kultur vor sich.
Auch der Tyrannei der Mode gegenüber gibt es nur das eine Mittel, das
aufrecht erhält und vorwärts bringt: die Stärkung der persönlichen Kraft, das
Selbstprüfen, das Selbstwühlen, das Selbstdenken und das Selbstgestalten. Aus
vielen einzelnen persönlichen Potenzen setzt sich das zusammen, was wir eine
geistige Bewegung nennen. Eine Idee kommt aus einem einzelnen Gehirn, sie
löst die gebundnen Ideen, die in andern Gehirnen des Weckrufs harren, und wie
sich aus vielen Wässerlein ein Strom bildet, so ist eine solche geistige Bewegung da,
die schließlich auch alle seichten Gelände überspült und Gemeingut wird. Der
Einwirkung dieser geistigen Kraft kann auch die tyrannische Mode nicht stand¬
halten, sie ändert sich mit dem Zeitgeist. Aber sie bleibt. Denn ihr Bleiben
heißt wechseln.




Persien
3. Rußlands Übergewicht und die Entwicklung des Außenhandels

>it dem Tage, an dem diese Eisenbahnen fertiggestellt wären, wäre
es vorbei mit der mühsam erworbnen russischen Handelssuprematie
in Nordpersien, und deshalb hat Nußland in weiser Voraussicht
eine Reihe von Maßnahmen getroffen, die, wie die Ausbreitung
der russischen Herrschaft in Persien überhaupt, zielbewußt und
I geradezu meisterhaft durchgeführt worden sind. Die orientalischen
Winkelzüge, der passive Widerstand und das persische Erpressungssystem versagten
den Russen gegenüber völlig, diese wußten vielmehr mit einer eines gewissen
Humors nicht entbehrenden Brutalität alle ihre Forderungen ohne Widerstand
durchzusetzen.

Zunächst nahm sich Nußland der persischen Armee liebevoll an. Nachdem
an dieser früher französische und österreichische Offiziere herumgedoktort hatten,
nahm in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ein russischer Oberst
mit einem Stäbe von Offizieren die Reorganisation der Armee in die Hand.
Sie ließen sich auf die völlig hoffnungslose Aufgabe gar nicht erst ein, auf
die ganze verlotterte Armee, deren Zahl ungefähr 40 bis 50000, auf dem Papier
das doppelte, beträgt, irgendwelchen Einfluß gewinnen zu wollen, sondern be¬
schränkten sich darauf, eine kleine Elitetruppe von 2000 Mann, die persische
Kosakenbrigade, zu formieren. Diese besteht vornehmlich aus Reiterei und Feld¬
artillerie und ist so organisiert, daß sie für größere Verbände den Nahmen
bilden kann; sie wird hauptsachlich aus Baktiaris rekrutiert, boshafterweise ge¬
rade dem Volksstamm im Süden, auf den sich die Engländer bemühen. Einfluß
auszuüben. Verpflegung und Löhnung erhalten die Mannschaften der Brigade
dank dem Einfluß ihres Befehlshabers wirklich, sogar aus der Russischen Bank,
und nehmen schon aus diesem Grunde eine ganz andre Stellung ein als die
eigentliche Armee. Zur Unterdrückung von Ruhestörungen werden sie als die
einzig disziplinierte Truppe hauptsächlich verwandt, auch haben sie bei der
Thronbesteigung des Schah Muzafser-Eddin wesentlich mit dazu beigetragen,


Persien

abspielt, geht auch in allen andern Lebensangelegenheiten der Kultur vor sich.
Auch der Tyrannei der Mode gegenüber gibt es nur das eine Mittel, das
aufrecht erhält und vorwärts bringt: die Stärkung der persönlichen Kraft, das
Selbstprüfen, das Selbstwühlen, das Selbstdenken und das Selbstgestalten. Aus
vielen einzelnen persönlichen Potenzen setzt sich das zusammen, was wir eine
geistige Bewegung nennen. Eine Idee kommt aus einem einzelnen Gehirn, sie
löst die gebundnen Ideen, die in andern Gehirnen des Weckrufs harren, und wie
sich aus vielen Wässerlein ein Strom bildet, so ist eine solche geistige Bewegung da,
die schließlich auch alle seichten Gelände überspült und Gemeingut wird. Der
Einwirkung dieser geistigen Kraft kann auch die tyrannische Mode nicht stand¬
halten, sie ändert sich mit dem Zeitgeist. Aber sie bleibt. Denn ihr Bleiben
heißt wechseln.




Persien
3. Rußlands Übergewicht und die Entwicklung des Außenhandels

>it dem Tage, an dem diese Eisenbahnen fertiggestellt wären, wäre
es vorbei mit der mühsam erworbnen russischen Handelssuprematie
in Nordpersien, und deshalb hat Nußland in weiser Voraussicht
eine Reihe von Maßnahmen getroffen, die, wie die Ausbreitung
der russischen Herrschaft in Persien überhaupt, zielbewußt und
I geradezu meisterhaft durchgeführt worden sind. Die orientalischen
Winkelzüge, der passive Widerstand und das persische Erpressungssystem versagten
den Russen gegenüber völlig, diese wußten vielmehr mit einer eines gewissen
Humors nicht entbehrenden Brutalität alle ihre Forderungen ohne Widerstand
durchzusetzen.

Zunächst nahm sich Nußland der persischen Armee liebevoll an. Nachdem
an dieser früher französische und österreichische Offiziere herumgedoktort hatten,
nahm in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ein russischer Oberst
mit einem Stäbe von Offizieren die Reorganisation der Armee in die Hand.
Sie ließen sich auf die völlig hoffnungslose Aufgabe gar nicht erst ein, auf
die ganze verlotterte Armee, deren Zahl ungefähr 40 bis 50000, auf dem Papier
das doppelte, beträgt, irgendwelchen Einfluß gewinnen zu wollen, sondern be¬
schränkten sich darauf, eine kleine Elitetruppe von 2000 Mann, die persische
Kosakenbrigade, zu formieren. Diese besteht vornehmlich aus Reiterei und Feld¬
artillerie und ist so organisiert, daß sie für größere Verbände den Nahmen
bilden kann; sie wird hauptsachlich aus Baktiaris rekrutiert, boshafterweise ge¬
rade dem Volksstamm im Süden, auf den sich die Engländer bemühen. Einfluß
auszuüben. Verpflegung und Löhnung erhalten die Mannschaften der Brigade
dank dem Einfluß ihres Befehlshabers wirklich, sogar aus der Russischen Bank,
und nehmen schon aus diesem Grunde eine ganz andre Stellung ein als die
eigentliche Armee. Zur Unterdrückung von Ruhestörungen werden sie als die
einzig disziplinierte Truppe hauptsächlich verwandt, auch haben sie bei der
Thronbesteigung des Schah Muzafser-Eddin wesentlich mit dazu beigetragen,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/313>, abgerufen am 19.05.2024.