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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Hermann Wertes "Spökenkiker"

Wo auch der Dichterfürst der Griechen seinen Geburtstag hatte, seine Lieder er¬
klangen überall zur Flöte, die ja mit ihrem langgezognen Tone den Takt besser
angeben kann als der kurzdauernde, geschlagne Ton des Saiteninstruments.

Fragen wir endlich, wie der Dichter aussah, so schaue man auf die
Doppelherme im Vatikan (siehe Baumeister, Denkmäler des Altertums, S. 116),
die auf der einen Seite Homer darstellt, auf der andern aber ein bärtiges
Antlitz, das Kühnheit und ungebändigte Leidenschaft zeigt, dessen erschlaffte
Muskeln unter dem Auge wohl auf Spottsucht deuten, und dessen Zug in den
Mundwinkeln Bitterkeit der Lebensauffassung verrät. Der Charakter der Büste
und die Zusammengehörigkeit mit Homer dürfte wohl den Archilochos erkennen
lassen, wenn der Typus anch aus hellenistischer Zeit stammt und eine freie
Schöpfung ist.

So stehe er vor uns, der Sänger seiner Freuden und Leiden:




Hermann Weites "spökenkiker"

ermann Wette hat sich durch seinen vortrefflichen biographischen
Roman "Krauskopf", der wegen seiner frischen und lebenswarmen
Gestaltung und wegen seines köstlichen Humors überall die beste
Aufnahme gefunden hat, ein begründetes Anrecht auf besondre
Beachtung erworben. Die zahlreichen Freunde seiner Muse
wurden deshalb durch die Ankündigung eines neuen Romans aus seiner Feder,
der unter dem Titel "Spökenkiker"*) die Geschichte einer verirrten Seele be¬
handle, aufs angenehmste überrascht. Der Roman liegt jetzt vor. Er wird
Zweifelsohne die Zahl der Verehrer Wettes beträchtlich vermehren. Er gehört
wieder der biographischen Art an, ist aber wesentlich von seinem Vorgänger
verschieden: er enthält die Lebensbeichte eines Mannes, der in seinen spätern
Lebensjahren infolge schwerer Schicksalsschläge ein Gewohnheitstrinker geworden
ist. Wette läßt gern seine Helden über sich und ihre Geschicke zu Worte
kommen. Nach seiner Meinung sollte sich nämlich jeder Gebildete bei guter
Gelegenheit im Geiste sammeln, sich über Gelesenes und Erlebtes selber Rechen¬
schaft ablegen, über seine innern und äußern Erfahrungen vor dem eignen
untrüglichen Gewissen beichten. Dann würde mancher in sich wahrhaftige
Mensch zu deutlicher Klarheit über sich und die Welt gelangen. Der Held
des neuen Romans hat das zu seinem Schaden versäumt und gelangt darum



*> Spökenkiker. Die Geschichte einer verirrten Menschenseele. Von Hermann Wette.
Erstes bis drittes Tausend. Leipzig, Fr. Wilh. Grunow, 1S07. 328 Seiten. Preis broschiert
4 Mark, gebunden S Mark.
Hermann Wertes „Spökenkiker"

Wo auch der Dichterfürst der Griechen seinen Geburtstag hatte, seine Lieder er¬
klangen überall zur Flöte, die ja mit ihrem langgezognen Tone den Takt besser
angeben kann als der kurzdauernde, geschlagne Ton des Saiteninstruments.

Fragen wir endlich, wie der Dichter aussah, so schaue man auf die
Doppelherme im Vatikan (siehe Baumeister, Denkmäler des Altertums, S. 116),
die auf der einen Seite Homer darstellt, auf der andern aber ein bärtiges
Antlitz, das Kühnheit und ungebändigte Leidenschaft zeigt, dessen erschlaffte
Muskeln unter dem Auge wohl auf Spottsucht deuten, und dessen Zug in den
Mundwinkeln Bitterkeit der Lebensauffassung verrät. Der Charakter der Büste
und die Zusammengehörigkeit mit Homer dürfte wohl den Archilochos erkennen
lassen, wenn der Typus anch aus hellenistischer Zeit stammt und eine freie
Schöpfung ist.

So stehe er vor uns, der Sänger seiner Freuden und Leiden:




Hermann Weites „spökenkiker"

ermann Wette hat sich durch seinen vortrefflichen biographischen
Roman „Krauskopf", der wegen seiner frischen und lebenswarmen
Gestaltung und wegen seines köstlichen Humors überall die beste
Aufnahme gefunden hat, ein begründetes Anrecht auf besondre
Beachtung erworben. Die zahlreichen Freunde seiner Muse
wurden deshalb durch die Ankündigung eines neuen Romans aus seiner Feder,
der unter dem Titel „Spökenkiker"*) die Geschichte einer verirrten Seele be¬
handle, aufs angenehmste überrascht. Der Roman liegt jetzt vor. Er wird
Zweifelsohne die Zahl der Verehrer Wettes beträchtlich vermehren. Er gehört
wieder der biographischen Art an, ist aber wesentlich von seinem Vorgänger
verschieden: er enthält die Lebensbeichte eines Mannes, der in seinen spätern
Lebensjahren infolge schwerer Schicksalsschläge ein Gewohnheitstrinker geworden
ist. Wette läßt gern seine Helden über sich und ihre Geschicke zu Worte
kommen. Nach seiner Meinung sollte sich nämlich jeder Gebildete bei guter
Gelegenheit im Geiste sammeln, sich über Gelesenes und Erlebtes selber Rechen¬
schaft ablegen, über seine innern und äußern Erfahrungen vor dem eignen
untrüglichen Gewissen beichten. Dann würde mancher in sich wahrhaftige
Mensch zu deutlicher Klarheit über sich und die Welt gelangen. Der Held
des neuen Romans hat das zu seinem Schaden versäumt und gelangt darum



*> Spökenkiker. Die Geschichte einer verirrten Menschenseele. Von Hermann Wette.
Erstes bis drittes Tausend. Leipzig, Fr. Wilh. Grunow, 1S07. 328 Seiten. Preis broschiert
4 Mark, gebunden S Mark.
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[0367] Hermann Wertes „Spökenkiker" Wo auch der Dichterfürst der Griechen seinen Geburtstag hatte, seine Lieder er¬ klangen überall zur Flöte, die ja mit ihrem langgezognen Tone den Takt besser angeben kann als der kurzdauernde, geschlagne Ton des Saiteninstruments. Fragen wir endlich, wie der Dichter aussah, so schaue man auf die Doppelherme im Vatikan (siehe Baumeister, Denkmäler des Altertums, S. 116), die auf der einen Seite Homer darstellt, auf der andern aber ein bärtiges Antlitz, das Kühnheit und ungebändigte Leidenschaft zeigt, dessen erschlaffte Muskeln unter dem Auge wohl auf Spottsucht deuten, und dessen Zug in den Mundwinkeln Bitterkeit der Lebensauffassung verrät. Der Charakter der Büste und die Zusammengehörigkeit mit Homer dürfte wohl den Archilochos erkennen lassen, wenn der Typus anch aus hellenistischer Zeit stammt und eine freie Schöpfung ist. So stehe er vor uns, der Sänger seiner Freuden und Leiden: Hermann Weites „spökenkiker" ermann Wette hat sich durch seinen vortrefflichen biographischen Roman „Krauskopf", der wegen seiner frischen und lebenswarmen Gestaltung und wegen seines köstlichen Humors überall die beste Aufnahme gefunden hat, ein begründetes Anrecht auf besondre Beachtung erworben. Die zahlreichen Freunde seiner Muse wurden deshalb durch die Ankündigung eines neuen Romans aus seiner Feder, der unter dem Titel „Spökenkiker"*) die Geschichte einer verirrten Seele be¬ handle, aufs angenehmste überrascht. Der Roman liegt jetzt vor. Er wird Zweifelsohne die Zahl der Verehrer Wettes beträchtlich vermehren. Er gehört wieder der biographischen Art an, ist aber wesentlich von seinem Vorgänger verschieden: er enthält die Lebensbeichte eines Mannes, der in seinen spätern Lebensjahren infolge schwerer Schicksalsschläge ein Gewohnheitstrinker geworden ist. Wette läßt gern seine Helden über sich und ihre Geschicke zu Worte kommen. Nach seiner Meinung sollte sich nämlich jeder Gebildete bei guter Gelegenheit im Geiste sammeln, sich über Gelesenes und Erlebtes selber Rechen¬ schaft ablegen, über seine innern und äußern Erfahrungen vor dem eignen untrüglichen Gewissen beichten. Dann würde mancher in sich wahrhaftige Mensch zu deutlicher Klarheit über sich und die Welt gelangen. Der Held des neuen Romans hat das zu seinem Schaden versäumt und gelangt darum *> Spökenkiker. Die Geschichte einer verirrten Menschenseele. Von Hermann Wette. Erstes bis drittes Tausend. Leipzig, Fr. Wilh. Grunow, 1S07. 328 Seiten. Preis broschiert 4 Mark, gebunden S Mark.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/367>, abgerufen am 19.05.2024.