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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Neuer deutscher Idealismus

er Ausfall der letzten Reichstagswahl hat das Denken von
Gesamtdeutschland verändert, der Bevölkerung erscheinen alle Ver¬
hältnisse in einem andern Lichte, sogar die altgewohnte Lust zu
nörgeln scheint abgenommen zu haben. Nirgends ist der Um¬
schwung so greifbar zutage getreten wie in Sachsen. Die Wähler¬
schaft ist hier beweglicher als anderswo und hat seit der Erflehung des Reiches
wohl schon sämtliche Farben des politischen Regenbogens durchwandert. In¬
folge mannigfacher Mißgeschicke des Landes, ihrer gewissenlosen Ausschlachtuug
durch die Presse schien die Bevölkerung nach den Reichstagswahlen von 1903
der Sozialdemokratie rettungslos verfallen zu sein. Aber der hauptsächlich durch
den Rieseustreik von Crimmitschau gekennzeichnete Kampf der sozialdemokratischen
Führer gegen die Arbeitgeberschast lehrte das in seiner Existenz bedrohte
Bürgertum, obgleich ihm seit einem halben Jahrhundert nur die freie Konkurrenz
als alleinige handelspolitische Weisheit gepredigt worden war, zum erstenmale
das Zusammenhalten. Die Niederlage der Arbeiter war darum schwer, aber
die Bürgerschaft hatte sich solidarisch fühlen gelernt und war zu der Er¬
kenntnis gekommen, daß die Massen der Sozialdemokratie nicht vom Standpunkt
einzelner Parteien ans, sondern bloß von der geschlossenen Masse des Bürger¬
tums bezwungen werden kann. Die Not hatte zur Einigkeit getrieben, und der
Erfolg wirkte als ermunterndes Beispiel nach Osten und nach Westen, was
namentlich in Sachsen selbst, in Thüringen und in Schlesien bei den Reichs¬
tagswahlen sichtbar zutage trat. Die Stimmung in der deutscheu Bevölkerung
hatte sich schon seit Jahren in der Richtung entwickelt, daß man nur auf den
Ruf wartete: Gegen die Sozialdemokratie!

Auf diese Stimmung hatten die Grenzboten*), bevor noch jemand an eine
Reichstagsauflösung dachte, schon hingewiesen und namentlich den National¬
liberalen ihren historischen Beruf zur Führung des Bürgertums in, Klassen-



*) Grenzboten 1906, Heft 46,
Grenzboten 7V 1907'",7


Neuer deutscher Idealismus

er Ausfall der letzten Reichstagswahl hat das Denken von
Gesamtdeutschland verändert, der Bevölkerung erscheinen alle Ver¬
hältnisse in einem andern Lichte, sogar die altgewohnte Lust zu
nörgeln scheint abgenommen zu haben. Nirgends ist der Um¬
schwung so greifbar zutage getreten wie in Sachsen. Die Wähler¬
schaft ist hier beweglicher als anderswo und hat seit der Erflehung des Reiches
wohl schon sämtliche Farben des politischen Regenbogens durchwandert. In¬
folge mannigfacher Mißgeschicke des Landes, ihrer gewissenlosen Ausschlachtuug
durch die Presse schien die Bevölkerung nach den Reichstagswahlen von 1903
der Sozialdemokratie rettungslos verfallen zu sein. Aber der hauptsächlich durch
den Rieseustreik von Crimmitschau gekennzeichnete Kampf der sozialdemokratischen
Führer gegen die Arbeitgeberschast lehrte das in seiner Existenz bedrohte
Bürgertum, obgleich ihm seit einem halben Jahrhundert nur die freie Konkurrenz
als alleinige handelspolitische Weisheit gepredigt worden war, zum erstenmale
das Zusammenhalten. Die Niederlage der Arbeiter war darum schwer, aber
die Bürgerschaft hatte sich solidarisch fühlen gelernt und war zu der Er¬
kenntnis gekommen, daß die Massen der Sozialdemokratie nicht vom Standpunkt
einzelner Parteien ans, sondern bloß von der geschlossenen Masse des Bürger¬
tums bezwungen werden kann. Die Not hatte zur Einigkeit getrieben, und der
Erfolg wirkte als ermunterndes Beispiel nach Osten und nach Westen, was
namentlich in Sachsen selbst, in Thüringen und in Schlesien bei den Reichs¬
tagswahlen sichtbar zutage trat. Die Stimmung in der deutscheu Bevölkerung
hatte sich schon seit Jahren in der Richtung entwickelt, daß man nur auf den
Ruf wartete: Gegen die Sozialdemokratie!

Auf diese Stimmung hatten die Grenzboten*), bevor noch jemand an eine
Reichstagsauflösung dachte, schon hingewiesen und namentlich den National¬
liberalen ihren historischen Beruf zur Führung des Bürgertums in, Klassen-



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[0445] [Abbildung] Neuer deutscher Idealismus er Ausfall der letzten Reichstagswahl hat das Denken von Gesamtdeutschland verändert, der Bevölkerung erscheinen alle Ver¬ hältnisse in einem andern Lichte, sogar die altgewohnte Lust zu nörgeln scheint abgenommen zu haben. Nirgends ist der Um¬ schwung so greifbar zutage getreten wie in Sachsen. Die Wähler¬ schaft ist hier beweglicher als anderswo und hat seit der Erflehung des Reiches wohl schon sämtliche Farben des politischen Regenbogens durchwandert. In¬ folge mannigfacher Mißgeschicke des Landes, ihrer gewissenlosen Ausschlachtuug durch die Presse schien die Bevölkerung nach den Reichstagswahlen von 1903 der Sozialdemokratie rettungslos verfallen zu sein. Aber der hauptsächlich durch den Rieseustreik von Crimmitschau gekennzeichnete Kampf der sozialdemokratischen Führer gegen die Arbeitgeberschast lehrte das in seiner Existenz bedrohte Bürgertum, obgleich ihm seit einem halben Jahrhundert nur die freie Konkurrenz als alleinige handelspolitische Weisheit gepredigt worden war, zum erstenmale das Zusammenhalten. Die Niederlage der Arbeiter war darum schwer, aber die Bürgerschaft hatte sich solidarisch fühlen gelernt und war zu der Er¬ kenntnis gekommen, daß die Massen der Sozialdemokratie nicht vom Standpunkt einzelner Parteien ans, sondern bloß von der geschlossenen Masse des Bürger¬ tums bezwungen werden kann. Die Not hatte zur Einigkeit getrieben, und der Erfolg wirkte als ermunterndes Beispiel nach Osten und nach Westen, was namentlich in Sachsen selbst, in Thüringen und in Schlesien bei den Reichs¬ tagswahlen sichtbar zutage trat. Die Stimmung in der deutscheu Bevölkerung hatte sich schon seit Jahren in der Richtung entwickelt, daß man nur auf den Ruf wartete: Gegen die Sozialdemokratie! Auf diese Stimmung hatten die Grenzboten*), bevor noch jemand an eine Reichstagsauflösung dachte, schon hingewiesen und namentlich den National¬ liberalen ihren historischen Beruf zur Führung des Bürgertums in, Klassen- *) Grenzboten 1906, Heft 46, Grenzboten 7V 1907'",7

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/445>, abgerufen am 19.05.2024.