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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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T)le Polenfrage in Preußen
George Lleinow von

er frühere Professor von der Akademie zu Posen, der jetzige
ordentliche Professor der Staatswissenschaften an der Universität
Kiel, Dr. Ludwig Bernhardt, hat im Verlage von Duncker und
Humblot zu Leipzig ein Buch veröffentlicht, das er "Das pol¬
nische Gemeinwesen im preußischen Staat" nennt. Das Buch
hat nicht nur ein Gelehrter, sondern auch ein ausgezeichneter Schriftsteller ge¬
schrieben, dessen Feder auf Papier zu bannen verstand, was ein klarer, scharf
eindringender Geist erschaut hat. Was er schildert, ist kurz gesagt -- einen
kleinen Teil der gewaltigen Wirtschaftsorganisation, die sich während der letzten
dreißig bis vierzig Jahre unter dem Schutze des preußischen Rechts- und Kultur¬
staats entwickelt hat. Dieser Teil umfaßt die polnisch sprechende Bevölkerung
Preußens. Aus dem Umstände, daß die wirtschaftliche Teilorganisation durch
einen national scharf begrenzten Kreis gebildet wird, wie auch aus der histo¬
rischen Vergangenheit der in Frage kommenden Nationalität nimmt sich der
Verfasser das Recht, Begriffe des Staatsrechts auf privatwirtschaftliche Ver¬
hältnisse zu übertragen. Er bezeichnet die polnische Organisation in Posen
und Westpreußen als eine Bauernrepublik (S. 157), die durch die Vorsteher
der polnischen Finanzinstitute, Genossenschaften, Sparkassen, Turm- und Tanz¬
vereine geleitet wird. Eine straffe Disziplin ist möglich, weil alle diese
Organisationen miteinander durch Personalunion (S. 151 bis 154) verbunden
sind. Das Bild ist trefflich. Bernhardt läßt aus der Geschichte der polnischen
Landtagsfraktion zu Berlin und der polnisch-demokratischen Bewegung in der
Provinz die Bauernorganisationen (S. 98) und das polnische Genossenschafts¬
wesen (S. 108) herauswachsen -- die Organisation der Industriearbeiter in
Rheinland und Westfalen folgt (S. 182).

Unabhängig von diesen Vereinigungen, so scheint es wenigstens dem ober-
flüchlichen Beschauer, sind die politischen Organisationen, die Soloth (S. 199)
und die Straz ("Wacht". S. 194) entstanden.


Grenzboten IV 1907 72


T)le Polenfrage in Preußen
George Lleinow von

er frühere Professor von der Akademie zu Posen, der jetzige
ordentliche Professor der Staatswissenschaften an der Universität
Kiel, Dr. Ludwig Bernhardt, hat im Verlage von Duncker und
Humblot zu Leipzig ein Buch veröffentlicht, das er „Das pol¬
nische Gemeinwesen im preußischen Staat" nennt. Das Buch
hat nicht nur ein Gelehrter, sondern auch ein ausgezeichneter Schriftsteller ge¬
schrieben, dessen Feder auf Papier zu bannen verstand, was ein klarer, scharf
eindringender Geist erschaut hat. Was er schildert, ist kurz gesagt — einen
kleinen Teil der gewaltigen Wirtschaftsorganisation, die sich während der letzten
dreißig bis vierzig Jahre unter dem Schutze des preußischen Rechts- und Kultur¬
staats entwickelt hat. Dieser Teil umfaßt die polnisch sprechende Bevölkerung
Preußens. Aus dem Umstände, daß die wirtschaftliche Teilorganisation durch
einen national scharf begrenzten Kreis gebildet wird, wie auch aus der histo¬
rischen Vergangenheit der in Frage kommenden Nationalität nimmt sich der
Verfasser das Recht, Begriffe des Staatsrechts auf privatwirtschaftliche Ver¬
hältnisse zu übertragen. Er bezeichnet die polnische Organisation in Posen
und Westpreußen als eine Bauernrepublik (S. 157), die durch die Vorsteher
der polnischen Finanzinstitute, Genossenschaften, Sparkassen, Turm- und Tanz¬
vereine geleitet wird. Eine straffe Disziplin ist möglich, weil alle diese
Organisationen miteinander durch Personalunion (S. 151 bis 154) verbunden
sind. Das Bild ist trefflich. Bernhardt läßt aus der Geschichte der polnischen
Landtagsfraktion zu Berlin und der polnisch-demokratischen Bewegung in der
Provinz die Bauernorganisationen (S. 98) und das polnische Genossenschafts¬
wesen (S. 108) herauswachsen — die Organisation der Industriearbeiter in
Rheinland und Westfalen folgt (S. 182).

Unabhängig von diesen Vereinigungen, so scheint es wenigstens dem ober-
flüchlichen Beschauer, sind die politischen Organisationen, die Soloth (S. 199)
und die Straz („Wacht". S. 194) entstanden.


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[0557] [Abbildung] T)le Polenfrage in Preußen George Lleinow von er frühere Professor von der Akademie zu Posen, der jetzige ordentliche Professor der Staatswissenschaften an der Universität Kiel, Dr. Ludwig Bernhardt, hat im Verlage von Duncker und Humblot zu Leipzig ein Buch veröffentlicht, das er „Das pol¬ nische Gemeinwesen im preußischen Staat" nennt. Das Buch hat nicht nur ein Gelehrter, sondern auch ein ausgezeichneter Schriftsteller ge¬ schrieben, dessen Feder auf Papier zu bannen verstand, was ein klarer, scharf eindringender Geist erschaut hat. Was er schildert, ist kurz gesagt — einen kleinen Teil der gewaltigen Wirtschaftsorganisation, die sich während der letzten dreißig bis vierzig Jahre unter dem Schutze des preußischen Rechts- und Kultur¬ staats entwickelt hat. Dieser Teil umfaßt die polnisch sprechende Bevölkerung Preußens. Aus dem Umstände, daß die wirtschaftliche Teilorganisation durch einen national scharf begrenzten Kreis gebildet wird, wie auch aus der histo¬ rischen Vergangenheit der in Frage kommenden Nationalität nimmt sich der Verfasser das Recht, Begriffe des Staatsrechts auf privatwirtschaftliche Ver¬ hältnisse zu übertragen. Er bezeichnet die polnische Organisation in Posen und Westpreußen als eine Bauernrepublik (S. 157), die durch die Vorsteher der polnischen Finanzinstitute, Genossenschaften, Sparkassen, Turm- und Tanz¬ vereine geleitet wird. Eine straffe Disziplin ist möglich, weil alle diese Organisationen miteinander durch Personalunion (S. 151 bis 154) verbunden sind. Das Bild ist trefflich. Bernhardt läßt aus der Geschichte der polnischen Landtagsfraktion zu Berlin und der polnisch-demokratischen Bewegung in der Provinz die Bauernorganisationen (S. 98) und das polnische Genossenschafts¬ wesen (S. 108) herauswachsen — die Organisation der Industriearbeiter in Rheinland und Westfalen folgt (S. 182). Unabhängig von diesen Vereinigungen, so scheint es wenigstens dem ober- flüchlichen Beschauer, sind die politischen Organisationen, die Soloth (S. 199) und die Straz („Wacht". S. 194) entstanden. Grenzboten IV 1907 72

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/557>, abgerufen am 19.05.2024.