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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Die richterliche Individualität und die Kollegialgerichte
Eugen Josef i vonn

meer den geplanten Änderungen der Neichsjustizgesetze ist eine gar
winzig an Umfang, aber in ihrer Bedeutung vielleicht die wichtigste.
Nur eine Ziffer soll geändert werden: der Paragraph 23 Ziffer 1
des Gerichtsverfassungsgesetzes begrenzt die Zuständigkeit der Amts¬
gerichte auf Streitigkeiten bis 300 Mark; statt der 300 will man
eine höhere Ziffer setzen; welche, steht noch nicht fest. Die einen verlangen 500,
die andern 600, 750, 1000, 1200 Mark; ganz besonders freigebige Naturen
gehen bis 3000 Mark, und einzelne halten sogar die Entscheidung sämtlicher
Rechtsstreitigkeiten in erster Instanz durch den Einzelrichter für das Erstrebens¬
werte, also auch bei den höchsten Streitwerten. In besondern Fluß ist die
Bewegung gekommen durch die vielerörterte Rede und die Schriften des Frank¬
furter Oberbürgermeisters Adickes. Sind seine "Grundzüge durchgreifender
Justizreform" auch mit Recht fast allgemein als eine "Traumwelt" bezeichnet
worden, der in Deutschland nicht die mindeste Einwirkung auf die Rechtspflege
beschieden sein wird, so hat man sie doch vielfach verwertet, um die Not¬
wendigkeit der Erhöhung der Zuständigkeit des Einzelrichters zu begründen.
Die Anhänger dieser "Reform" weisen auf folgendes hin: In frühern Zeiten,
wo sich die Wissenschaft nur schwerfällig Eingang bei den Praktikern zu be¬
schaffen wußte, sei der Einzelrichter von den Mitteln höherer wissenschaftlicher
Fortbildung abgeschnitten gewesen, in jenen Zeiten, wo in Preußen der
Kochsche Kommentar zum Allgemeinen Landrecht, die beiden Lehrbücher von
Förster und Dernburg, die Gruchotschen Beitrüge und die Entscheidungen des
Obertribunals und des Kammergerichts fast die ganze Wissenschaft darstellten,
deren sich der Praktiker bedienen konnte. Jetzt umfasse dagegen die Gerichts¬
bücherei eine unabsehbare Fülle von Kommentaren, Lehrbüchern, Zeitschriften
und Sammlungen von Entscheidungen, die dem Amtsrichter ebenso zugänglich
seien wie den Mitgliedern der Kollegialgerichte. Der Amtsrichter sei also nicht
mehr von den Mitteln höherer wissenschaftlicher Fortbildung abgeschnitten. Dazu
komme aber, daß er schneller arbeite als das Kollegium; daß er ferner weniger
der Beeinflussung unterliege, unabhängiger sei; denn in einem Kollegium bestehe
stets für schwächere Charaktere die Gefahr, daß Rücksichten nicht sachlicher Art
die Entscheidung wenn auch unbewußt beeinflussen; und ein Sprichwort der
Juristen besage: unter dreien gebe allemal der dümmste den Ausschlag. Weiter




Die richterliche Individualität und die Kollegialgerichte
Eugen Josef i vonn

meer den geplanten Änderungen der Neichsjustizgesetze ist eine gar
winzig an Umfang, aber in ihrer Bedeutung vielleicht die wichtigste.
Nur eine Ziffer soll geändert werden: der Paragraph 23 Ziffer 1
des Gerichtsverfassungsgesetzes begrenzt die Zuständigkeit der Amts¬
gerichte auf Streitigkeiten bis 300 Mark; statt der 300 will man
eine höhere Ziffer setzen; welche, steht noch nicht fest. Die einen verlangen 500,
die andern 600, 750, 1000, 1200 Mark; ganz besonders freigebige Naturen
gehen bis 3000 Mark, und einzelne halten sogar die Entscheidung sämtlicher
Rechtsstreitigkeiten in erster Instanz durch den Einzelrichter für das Erstrebens¬
werte, also auch bei den höchsten Streitwerten. In besondern Fluß ist die
Bewegung gekommen durch die vielerörterte Rede und die Schriften des Frank¬
furter Oberbürgermeisters Adickes. Sind seine „Grundzüge durchgreifender
Justizreform" auch mit Recht fast allgemein als eine „Traumwelt" bezeichnet
worden, der in Deutschland nicht die mindeste Einwirkung auf die Rechtspflege
beschieden sein wird, so hat man sie doch vielfach verwertet, um die Not¬
wendigkeit der Erhöhung der Zuständigkeit des Einzelrichters zu begründen.
Die Anhänger dieser „Reform" weisen auf folgendes hin: In frühern Zeiten,
wo sich die Wissenschaft nur schwerfällig Eingang bei den Praktikern zu be¬
schaffen wußte, sei der Einzelrichter von den Mitteln höherer wissenschaftlicher
Fortbildung abgeschnitten gewesen, in jenen Zeiten, wo in Preußen der
Kochsche Kommentar zum Allgemeinen Landrecht, die beiden Lehrbücher von
Förster und Dernburg, die Gruchotschen Beitrüge und die Entscheidungen des
Obertribunals und des Kammergerichts fast die ganze Wissenschaft darstellten,
deren sich der Praktiker bedienen konnte. Jetzt umfasse dagegen die Gerichts¬
bücherei eine unabsehbare Fülle von Kommentaren, Lehrbüchern, Zeitschriften
und Sammlungen von Entscheidungen, die dem Amtsrichter ebenso zugänglich
seien wie den Mitgliedern der Kollegialgerichte. Der Amtsrichter sei also nicht
mehr von den Mitteln höherer wissenschaftlicher Fortbildung abgeschnitten. Dazu
komme aber, daß er schneller arbeite als das Kollegium; daß er ferner weniger
der Beeinflussung unterliege, unabhängiger sei; denn in einem Kollegium bestehe
stets für schwächere Charaktere die Gefahr, daß Rücksichten nicht sachlicher Art
die Entscheidung wenn auch unbewußt beeinflussen; und ein Sprichwort der
Juristen besage: unter dreien gebe allemal der dümmste den Ausschlag. Weiter


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[0683] [Abbildung] Die richterliche Individualität und die Kollegialgerichte Eugen Josef i vonn meer den geplanten Änderungen der Neichsjustizgesetze ist eine gar winzig an Umfang, aber in ihrer Bedeutung vielleicht die wichtigste. Nur eine Ziffer soll geändert werden: der Paragraph 23 Ziffer 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes begrenzt die Zuständigkeit der Amts¬ gerichte auf Streitigkeiten bis 300 Mark; statt der 300 will man eine höhere Ziffer setzen; welche, steht noch nicht fest. Die einen verlangen 500, die andern 600, 750, 1000, 1200 Mark; ganz besonders freigebige Naturen gehen bis 3000 Mark, und einzelne halten sogar die Entscheidung sämtlicher Rechtsstreitigkeiten in erster Instanz durch den Einzelrichter für das Erstrebens¬ werte, also auch bei den höchsten Streitwerten. In besondern Fluß ist die Bewegung gekommen durch die vielerörterte Rede und die Schriften des Frank¬ furter Oberbürgermeisters Adickes. Sind seine „Grundzüge durchgreifender Justizreform" auch mit Recht fast allgemein als eine „Traumwelt" bezeichnet worden, der in Deutschland nicht die mindeste Einwirkung auf die Rechtspflege beschieden sein wird, so hat man sie doch vielfach verwertet, um die Not¬ wendigkeit der Erhöhung der Zuständigkeit des Einzelrichters zu begründen. Die Anhänger dieser „Reform" weisen auf folgendes hin: In frühern Zeiten, wo sich die Wissenschaft nur schwerfällig Eingang bei den Praktikern zu be¬ schaffen wußte, sei der Einzelrichter von den Mitteln höherer wissenschaftlicher Fortbildung abgeschnitten gewesen, in jenen Zeiten, wo in Preußen der Kochsche Kommentar zum Allgemeinen Landrecht, die beiden Lehrbücher von Förster und Dernburg, die Gruchotschen Beitrüge und die Entscheidungen des Obertribunals und des Kammergerichts fast die ganze Wissenschaft darstellten, deren sich der Praktiker bedienen konnte. Jetzt umfasse dagegen die Gerichts¬ bücherei eine unabsehbare Fülle von Kommentaren, Lehrbüchern, Zeitschriften und Sammlungen von Entscheidungen, die dem Amtsrichter ebenso zugänglich seien wie den Mitgliedern der Kollegialgerichte. Der Amtsrichter sei also nicht mehr von den Mitteln höherer wissenschaftlicher Fortbildung abgeschnitten. Dazu komme aber, daß er schneller arbeite als das Kollegium; daß er ferner weniger der Beeinflussung unterliege, unabhängiger sei; denn in einem Kollegium bestehe stets für schwächere Charaktere die Gefahr, daß Rücksichten nicht sachlicher Art die Entscheidung wenn auch unbewußt beeinflussen; und ein Sprichwort der Juristen besage: unter dreien gebe allemal der dümmste den Ausschlag. Weiter

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/683>, abgerufen am 19.05.2024.