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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Altjapanische Lyrik

! le chinesische Kultur ist viel älter als die germanische, die japanische
aber nur wenig. Die ältesten japanischen Literaturwerke sind zwei
Geschichtsbücher aus einer Zeit, in der in Europa die germanische
Völkerwanderung zur Ruhe kam und die Karolinger an die Spitze
I des Frankenreichs traten. Diese Geschichtsbücher enthalten namentlich
da, wo von den Kriegstaten und dem Liebesleben der Kaiser und andrer Großen
die Rede ist, manches Lied. Brauchbare europäische Wiedergaben solcher Lieder
gibt es erst seit den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts; zunächst haben
sich da englische Gelehrte verdient gemacht. Mit dem Beginn unsers Jahr¬
hunderts ist die deutsche Wissenschaft auf diesem Gebiete gleichwertig neben die
englische getreten; namentlich der Forschung, Darstellung und Übersetzung von
K. Florenz verdanken wir eine deutlichere Vorstellung dieser altöstlichen Kunst.
Justus Leo hat nun soeben den Versuch gemacht, in dieser primitiven japanischen
Lyrik, die fern von aller modernen Persönlichkeitskultur ist und offenbar -- dies
ergibt sich aus der wiederholten Überlieferung desselben Liedes zu verschiednen
angeblichen Entstehungsgelegenheiten -- volkstümliches poetisches Gut zur Ver¬
brämung des Herrscherruhmes verwandte, wieder verschiedne Kulturstufen zu
unterscheiden. Wir halten den Versuch für wohl durchführbar und gestehen,
daß in der Tat die Zeiten des siebenten und achten Jahrhunderts, die Leo
darum von der uoch ältern Zeit trennt, eine neuere, ästhetischere, kompliziertere,
zum Teil abgeschwächtere Lyrik in Japan gesehen haben müssen als die Jahr¬
hunderte davor. Dabei verkennen wir nicht, daß sich die primitive volkstüm¬
liche Kunst lebendig erhalten kann zugleich mit dem Heranwachsen einer anders
gearteten Kulturdichtung. Das hente gesungne Tiroler Volkslied zum Beispiel
enthält Tageliedmotive, die ursprünglicher und deren erste Verwendung älter
ist als die ganze Tageliedpoesie der Minnesinger.

Wir geben im folgenden nach Florenz und Leo*) Proben der ältesten
japanischen Lyrik aus jenen Geschichtsbüchern und fügen einige Gedichte oder
Gedichtteile aus dem Mmiyoshu. das heißt Myriadenblättersammlung. hinzu,
der erstell großen japanischen Gedichtsammlung, um 750 von dem Dichter



K. Florenz, Geschichte der japanischen Literatur I. 1904. -- I. Leo, Die Entwicklung
des ältesten japanischen Seelenlebens nach seinen literarischen Ausdrucksformen. 1907.
Grenzboten I 1908 30


Altjapanische Lyrik

! le chinesische Kultur ist viel älter als die germanische, die japanische
aber nur wenig. Die ältesten japanischen Literaturwerke sind zwei
Geschichtsbücher aus einer Zeit, in der in Europa die germanische
Völkerwanderung zur Ruhe kam und die Karolinger an die Spitze
I des Frankenreichs traten. Diese Geschichtsbücher enthalten namentlich
da, wo von den Kriegstaten und dem Liebesleben der Kaiser und andrer Großen
die Rede ist, manches Lied. Brauchbare europäische Wiedergaben solcher Lieder
gibt es erst seit den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts; zunächst haben
sich da englische Gelehrte verdient gemacht. Mit dem Beginn unsers Jahr¬
hunderts ist die deutsche Wissenschaft auf diesem Gebiete gleichwertig neben die
englische getreten; namentlich der Forschung, Darstellung und Übersetzung von
K. Florenz verdanken wir eine deutlichere Vorstellung dieser altöstlichen Kunst.
Justus Leo hat nun soeben den Versuch gemacht, in dieser primitiven japanischen
Lyrik, die fern von aller modernen Persönlichkeitskultur ist und offenbar — dies
ergibt sich aus der wiederholten Überlieferung desselben Liedes zu verschiednen
angeblichen Entstehungsgelegenheiten — volkstümliches poetisches Gut zur Ver¬
brämung des Herrscherruhmes verwandte, wieder verschiedne Kulturstufen zu
unterscheiden. Wir halten den Versuch für wohl durchführbar und gestehen,
daß in der Tat die Zeiten des siebenten und achten Jahrhunderts, die Leo
darum von der uoch ältern Zeit trennt, eine neuere, ästhetischere, kompliziertere,
zum Teil abgeschwächtere Lyrik in Japan gesehen haben müssen als die Jahr¬
hunderte davor. Dabei verkennen wir nicht, daß sich die primitive volkstüm¬
liche Kunst lebendig erhalten kann zugleich mit dem Heranwachsen einer anders
gearteten Kulturdichtung. Das hente gesungne Tiroler Volkslied zum Beispiel
enthält Tageliedmotive, die ursprünglicher und deren erste Verwendung älter
ist als die ganze Tageliedpoesie der Minnesinger.

Wir geben im folgenden nach Florenz und Leo*) Proben der ältesten
japanischen Lyrik aus jenen Geschichtsbüchern und fügen einige Gedichte oder
Gedichtteile aus dem Mmiyoshu. das heißt Myriadenblättersammlung. hinzu,
der erstell großen japanischen Gedichtsammlung, um 750 von dem Dichter



K. Florenz, Geschichte der japanischen Literatur I. 1904. — I. Leo, Die Entwicklung
des ältesten japanischen Seelenlebens nach seinen literarischen Ausdrucksformen. 1907.
Grenzboten I 1908 30
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[0233] [Abbildung] Altjapanische Lyrik ! le chinesische Kultur ist viel älter als die germanische, die japanische aber nur wenig. Die ältesten japanischen Literaturwerke sind zwei Geschichtsbücher aus einer Zeit, in der in Europa die germanische Völkerwanderung zur Ruhe kam und die Karolinger an die Spitze I des Frankenreichs traten. Diese Geschichtsbücher enthalten namentlich da, wo von den Kriegstaten und dem Liebesleben der Kaiser und andrer Großen die Rede ist, manches Lied. Brauchbare europäische Wiedergaben solcher Lieder gibt es erst seit den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts; zunächst haben sich da englische Gelehrte verdient gemacht. Mit dem Beginn unsers Jahr¬ hunderts ist die deutsche Wissenschaft auf diesem Gebiete gleichwertig neben die englische getreten; namentlich der Forschung, Darstellung und Übersetzung von K. Florenz verdanken wir eine deutlichere Vorstellung dieser altöstlichen Kunst. Justus Leo hat nun soeben den Versuch gemacht, in dieser primitiven japanischen Lyrik, die fern von aller modernen Persönlichkeitskultur ist und offenbar — dies ergibt sich aus der wiederholten Überlieferung desselben Liedes zu verschiednen angeblichen Entstehungsgelegenheiten — volkstümliches poetisches Gut zur Ver¬ brämung des Herrscherruhmes verwandte, wieder verschiedne Kulturstufen zu unterscheiden. Wir halten den Versuch für wohl durchführbar und gestehen, daß in der Tat die Zeiten des siebenten und achten Jahrhunderts, die Leo darum von der uoch ältern Zeit trennt, eine neuere, ästhetischere, kompliziertere, zum Teil abgeschwächtere Lyrik in Japan gesehen haben müssen als die Jahr¬ hunderte davor. Dabei verkennen wir nicht, daß sich die primitive volkstüm¬ liche Kunst lebendig erhalten kann zugleich mit dem Heranwachsen einer anders gearteten Kulturdichtung. Das hente gesungne Tiroler Volkslied zum Beispiel enthält Tageliedmotive, die ursprünglicher und deren erste Verwendung älter ist als die ganze Tageliedpoesie der Minnesinger. Wir geben im folgenden nach Florenz und Leo*) Proben der ältesten japanischen Lyrik aus jenen Geschichtsbüchern und fügen einige Gedichte oder Gedichtteile aus dem Mmiyoshu. das heißt Myriadenblättersammlung. hinzu, der erstell großen japanischen Gedichtsammlung, um 750 von dem Dichter K. Florenz, Geschichte der japanischen Literatur I. 1904. — I. Leo, Die Entwicklung des ältesten japanischen Seelenlebens nach seinen literarischen Ausdrucksformen. 1907. Grenzboten I 1908 30

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/233>, abgerufen am 04.05.2024.