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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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(Österreich und der Krimkrieg

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MQ/> n der europäischen Staatengeschichte spielt der Krimkrieg eine größere
Rolle, als man ihm gemeinhin in unsern Tagen zugestehn will. Der
Pariser Friede zwar, der ihn beendete, ist nur von kurzer Dauer
gewesen, wie alle papiernenTraktate, "die theoretisch vielversprechend,
Ilange vor dem ersten Kanonenschuß bereits gebrochen sind"; aber
in mannigfacher Hinsicht ist er doch ein Wendepunkt in der Geschichte des ver¬
gangnen Jahrhunderts. An ihm brach sich die scheinbar unwiderstehliche Macht
Rußlands. Durch ihn wurde die Heilige Allianz, die jahrzehntelang auf dem
Leben der Völker gelastet hatte, zu Grabe getragen. Die Verteidiger des alten
Europas, die letzten Vertreter der Metternichschen Schule treten von der Schau¬
bühne der Weltgeschichte ab; schon zeigt sich der Einfluß der kommenden Männer:
Cavour und Bismarck. Bekanntlich wurden auch die deutschen Großmächte in
den Kampf um die Herrschaft im Schwarzen Meer hineingezogen; vor allem
der Donaustaat, dem es nicht gleichgiltig sein kann, was nach einem Kriege
mit der Türkei geschieht. Es war ein schwerer politischer Irrtum, wenn Nikolaus
der Erste, gewohnt, in Österreich wie Preußen nur gefügige Vasallenstaaten zu
sehen, auch in der orientalischen Frage Osterreich als aug,iM6 nvAliSeadlö
betrachtete. Ohne Bedenken verriet er daher dem englischen Gesandten Seymour
die Endziele seiner Orientpolitik, die die Türkei zu einem Schutzstaat Rußlands
herabdrückten -- Konstantinopel wollte er bescheiden als "Depositar Europas"
in Anspruch nehmen. Indem England vor Ausbruch des Krieges die Gespräche
seines Gesandten mit dem Zaren bekannt gab, "drückte es dem Wiener Hofe
den Stachel in die Brust". Die Abkehr Österreichs von Rußland war die Folge.
Wohl hat Kaiser Franz Joseph seinen Staat vor dem verhängnisvollen Wasser¬
gange mit Nußland bewahrt; aber zu offner Neutralität ebensowenig entschlossen
wie zu einer tatkräftigen Unterstützung der Westmächte vollzog Osterreich den
Bruch mit der einen Partei, ohne die Freundschaft der andern zu gewinnen.
Hier liegen die Keime einer Politik, die über Magenta nach Königgrätz führte.
Schon darum wird die eben erschienene Studie des bekannten Verfassers vom
"Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland" auf eine allgemeine Beachtung
rechnen dürfen.*)

Trotz der englischen Enthüllungen war man in den maßgebenden Kreisen
Wiens nicht einer Meinung, und der junge Kaiser hatte es nicht leicht, die



*) H. Friedjung, Der Krimkrieg und die österreichische Politik. Stuttgart und Berlin, 1907.


(Österreich und der Krimkrieg

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MQ/> n der europäischen Staatengeschichte spielt der Krimkrieg eine größere
Rolle, als man ihm gemeinhin in unsern Tagen zugestehn will. Der
Pariser Friede zwar, der ihn beendete, ist nur von kurzer Dauer
gewesen, wie alle papiernenTraktate, „die theoretisch vielversprechend,
Ilange vor dem ersten Kanonenschuß bereits gebrochen sind"; aber
in mannigfacher Hinsicht ist er doch ein Wendepunkt in der Geschichte des ver¬
gangnen Jahrhunderts. An ihm brach sich die scheinbar unwiderstehliche Macht
Rußlands. Durch ihn wurde die Heilige Allianz, die jahrzehntelang auf dem
Leben der Völker gelastet hatte, zu Grabe getragen. Die Verteidiger des alten
Europas, die letzten Vertreter der Metternichschen Schule treten von der Schau¬
bühne der Weltgeschichte ab; schon zeigt sich der Einfluß der kommenden Männer:
Cavour und Bismarck. Bekanntlich wurden auch die deutschen Großmächte in
den Kampf um die Herrschaft im Schwarzen Meer hineingezogen; vor allem
der Donaustaat, dem es nicht gleichgiltig sein kann, was nach einem Kriege
mit der Türkei geschieht. Es war ein schwerer politischer Irrtum, wenn Nikolaus
der Erste, gewohnt, in Österreich wie Preußen nur gefügige Vasallenstaaten zu
sehen, auch in der orientalischen Frage Osterreich als aug,iM6 nvAliSeadlö
betrachtete. Ohne Bedenken verriet er daher dem englischen Gesandten Seymour
die Endziele seiner Orientpolitik, die die Türkei zu einem Schutzstaat Rußlands
herabdrückten — Konstantinopel wollte er bescheiden als „Depositar Europas"
in Anspruch nehmen. Indem England vor Ausbruch des Krieges die Gespräche
seines Gesandten mit dem Zaren bekannt gab, „drückte es dem Wiener Hofe
den Stachel in die Brust". Die Abkehr Österreichs von Rußland war die Folge.
Wohl hat Kaiser Franz Joseph seinen Staat vor dem verhängnisvollen Wasser¬
gange mit Nußland bewahrt; aber zu offner Neutralität ebensowenig entschlossen
wie zu einer tatkräftigen Unterstützung der Westmächte vollzog Osterreich den
Bruch mit der einen Partei, ohne die Freundschaft der andern zu gewinnen.
Hier liegen die Keime einer Politik, die über Magenta nach Königgrätz führte.
Schon darum wird die eben erschienene Studie des bekannten Verfassers vom
„Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland" auf eine allgemeine Beachtung
rechnen dürfen.*)

Trotz der englischen Enthüllungen war man in den maßgebenden Kreisen
Wiens nicht einer Meinung, und der junge Kaiser hatte es nicht leicht, die



*) H. Friedjung, Der Krimkrieg und die österreichische Politik. Stuttgart und Berlin, 1907.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/272>, abgerufen am 04.05.2024.