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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Ver Verfall des städtischen Regiments in Deutschland

Kennt man die agrarischen Verhältnisse Rumäniens, so kennt man auch
die Ungarns und Polens. Was dort die Bojaren, sind hier die Magnaten;
sie beherrschen das Land wirtschaftlich und politisch, sie saugen und nützen den
Bauern aus bis aufs Blut. Man braucht auch nur durch Ungarn zu fahren,
und man bemerkt mit Schrecken, wie an Stelle der behäbigen Bauernhöfe
Siebenbürgens in der ungarischen Ebene ärmliche Hütten ohne Garten und
Bäume treten -- Tagelöhnerhütten.

Überblicken wir die Entwicklung in dem Verhältnis zwischen Adel und
Bauern bei den Völkern des östlichen Europas, so bemerken wir die auffallende
Erscheinung, daß sie sich gerade in umgekehrter Richtung bewegt wie in West¬
europa: während hier der Großgrundbesitz entweder fast allgemein zugunsten
eines freien Bauernstandes zurückgegangen ist oder diesen doch nicht an seiner
Entfaltung ernstlich gehindert hat, ist dort der anfangs freie Bauernstand im
Laufe der Zeit immer mehr von dem ländlichen Adel zurückgedrängt worden
und in dessen Botmäßigkeit geraten, woran auch die nominelle Befreiung in
Rußland, Rumänien und Ungarn nicht viel geändert hat, wenn man die Dinge
von der faktischen, nicht von der rechtlich-formellen Seite ansieht. Derselbe
soziale Prozeß, der schon die byzantinische Geschichte kennzeichnet, die Zurück¬
drängung des Bauernstandes durch den Adel, hat sich in der russischen, rumä¬
nischen und ungarischen noch einmal wiederholt und ist nur in der türkischen
und der darauf beruhenden der Balkanvölker folgerichtig im demokratischen
Sinne weiter gediehen durch die allmähliche Ausscheidung des Adels. Dieser
aber kann auch in jenen drei Ländern als abgewirtschaftet gelten, kommt jeden¬
falls als Kulturfaktor nicht mehr in Frage. Vielmehr hängt ihre Zukunft ab
von einer durchgreifenden und zeitgemäßen Lösung der Bauernfrage, wie sie seit
den Zeiten Kaiser Leos im achten Jahrhundert nicht wieder ernstlich versucht
worden ist. Erst wenn die von der Natur zu echten Bauernländern geschaffnen
Länder Osteuropas auch sozial zu solchen geworden sein werden, wie es die
skandinavischen geworden sind -- erst dann werden sie ihre Kultnrbestimmung
vollständig erfüllen können.




Der Verfall des städtischen Regiments in Deutschland

uf historisch-wirtschaftlichem Gebiete ist vielleicht keine Materie
-- wenigstens was zusammenhängende Darstellung anlangt --
bisher so vernachlässigt worden wie die Entwicklungsgeschichte des
Städtewesens. Man hat sich in Deutschland daran gewöhnt, die
nationale Verfassungsgeschichte vom Standpunkte der Entwicklung
des Reiches oder der Territorialstaaten aus zu betrachten und dem urbaren
Verfassungsprinzip der freien Genossenschaft, obwohl dieses jahrhundertelang


Grenzboten I 1908 48
Ver Verfall des städtischen Regiments in Deutschland

Kennt man die agrarischen Verhältnisse Rumäniens, so kennt man auch
die Ungarns und Polens. Was dort die Bojaren, sind hier die Magnaten;
sie beherrschen das Land wirtschaftlich und politisch, sie saugen und nützen den
Bauern aus bis aufs Blut. Man braucht auch nur durch Ungarn zu fahren,
und man bemerkt mit Schrecken, wie an Stelle der behäbigen Bauernhöfe
Siebenbürgens in der ungarischen Ebene ärmliche Hütten ohne Garten und
Bäume treten — Tagelöhnerhütten.

Überblicken wir die Entwicklung in dem Verhältnis zwischen Adel und
Bauern bei den Völkern des östlichen Europas, so bemerken wir die auffallende
Erscheinung, daß sie sich gerade in umgekehrter Richtung bewegt wie in West¬
europa: während hier der Großgrundbesitz entweder fast allgemein zugunsten
eines freien Bauernstandes zurückgegangen ist oder diesen doch nicht an seiner
Entfaltung ernstlich gehindert hat, ist dort der anfangs freie Bauernstand im
Laufe der Zeit immer mehr von dem ländlichen Adel zurückgedrängt worden
und in dessen Botmäßigkeit geraten, woran auch die nominelle Befreiung in
Rußland, Rumänien und Ungarn nicht viel geändert hat, wenn man die Dinge
von der faktischen, nicht von der rechtlich-formellen Seite ansieht. Derselbe
soziale Prozeß, der schon die byzantinische Geschichte kennzeichnet, die Zurück¬
drängung des Bauernstandes durch den Adel, hat sich in der russischen, rumä¬
nischen und ungarischen noch einmal wiederholt und ist nur in der türkischen
und der darauf beruhenden der Balkanvölker folgerichtig im demokratischen
Sinne weiter gediehen durch die allmähliche Ausscheidung des Adels. Dieser
aber kann auch in jenen drei Ländern als abgewirtschaftet gelten, kommt jeden¬
falls als Kulturfaktor nicht mehr in Frage. Vielmehr hängt ihre Zukunft ab
von einer durchgreifenden und zeitgemäßen Lösung der Bauernfrage, wie sie seit
den Zeiten Kaiser Leos im achten Jahrhundert nicht wieder ernstlich versucht
worden ist. Erst wenn die von der Natur zu echten Bauernländern geschaffnen
Länder Osteuropas auch sozial zu solchen geworden sein werden, wie es die
skandinavischen geworden sind — erst dann werden sie ihre Kultnrbestimmung
vollständig erfüllen können.




Der Verfall des städtischen Regiments in Deutschland

uf historisch-wirtschaftlichem Gebiete ist vielleicht keine Materie
— wenigstens was zusammenhängende Darstellung anlangt —
bisher so vernachlässigt worden wie die Entwicklungsgeschichte des
Städtewesens. Man hat sich in Deutschland daran gewöhnt, die
nationale Verfassungsgeschichte vom Standpunkte der Entwicklung
des Reiches oder der Territorialstaaten aus zu betrachten und dem urbaren
Verfassungsprinzip der freien Genossenschaft, obwohl dieses jahrhundertelang


Grenzboten I 1908 48
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[0373] Ver Verfall des städtischen Regiments in Deutschland Kennt man die agrarischen Verhältnisse Rumäniens, so kennt man auch die Ungarns und Polens. Was dort die Bojaren, sind hier die Magnaten; sie beherrschen das Land wirtschaftlich und politisch, sie saugen und nützen den Bauern aus bis aufs Blut. Man braucht auch nur durch Ungarn zu fahren, und man bemerkt mit Schrecken, wie an Stelle der behäbigen Bauernhöfe Siebenbürgens in der ungarischen Ebene ärmliche Hütten ohne Garten und Bäume treten — Tagelöhnerhütten. Überblicken wir die Entwicklung in dem Verhältnis zwischen Adel und Bauern bei den Völkern des östlichen Europas, so bemerken wir die auffallende Erscheinung, daß sie sich gerade in umgekehrter Richtung bewegt wie in West¬ europa: während hier der Großgrundbesitz entweder fast allgemein zugunsten eines freien Bauernstandes zurückgegangen ist oder diesen doch nicht an seiner Entfaltung ernstlich gehindert hat, ist dort der anfangs freie Bauernstand im Laufe der Zeit immer mehr von dem ländlichen Adel zurückgedrängt worden und in dessen Botmäßigkeit geraten, woran auch die nominelle Befreiung in Rußland, Rumänien und Ungarn nicht viel geändert hat, wenn man die Dinge von der faktischen, nicht von der rechtlich-formellen Seite ansieht. Derselbe soziale Prozeß, der schon die byzantinische Geschichte kennzeichnet, die Zurück¬ drängung des Bauernstandes durch den Adel, hat sich in der russischen, rumä¬ nischen und ungarischen noch einmal wiederholt und ist nur in der türkischen und der darauf beruhenden der Balkanvölker folgerichtig im demokratischen Sinne weiter gediehen durch die allmähliche Ausscheidung des Adels. Dieser aber kann auch in jenen drei Ländern als abgewirtschaftet gelten, kommt jeden¬ falls als Kulturfaktor nicht mehr in Frage. Vielmehr hängt ihre Zukunft ab von einer durchgreifenden und zeitgemäßen Lösung der Bauernfrage, wie sie seit den Zeiten Kaiser Leos im achten Jahrhundert nicht wieder ernstlich versucht worden ist. Erst wenn die von der Natur zu echten Bauernländern geschaffnen Länder Osteuropas auch sozial zu solchen geworden sein werden, wie es die skandinavischen geworden sind — erst dann werden sie ihre Kultnrbestimmung vollständig erfüllen können. Der Verfall des städtischen Regiments in Deutschland uf historisch-wirtschaftlichem Gebiete ist vielleicht keine Materie — wenigstens was zusammenhängende Darstellung anlangt — bisher so vernachlässigt worden wie die Entwicklungsgeschichte des Städtewesens. Man hat sich in Deutschland daran gewöhnt, die nationale Verfassungsgeschichte vom Standpunkte der Entwicklung des Reiches oder der Territorialstaaten aus zu betrachten und dem urbaren Verfassungsprinzip der freien Genossenschaft, obwohl dieses jahrhundertelang Grenzboten I 1908 48

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/373>, abgerufen am 04.05.2024.