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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Gustav Freytags Soll und Haben

Menschheit unter einheitlich universalen Gesichtspunkten können sie selbst bei
größter Vortrefflichkeit der Einzelleistungen ihrer Natur nach nicht bieten.
Schon daß Lindner als einzelner, der freilich von Anfang seiner wissenschaft¬
lichen Tätigkeit an nach eignem Bekenntnis das Einzelne stets nur unter
dem Gesichtspunkt des Universalen, die Spezialgeschichte nur als Vorarbeit zur
Universalgeschichte betrachtet hat, um den kühnen Wurf gewagt hat, sich zu
einer einheitlichen Erfassung und Darstellung der universalen Entwicklung zu
erheben, muß ihm als hohes Verdienst angerechnet werden. Die Art der
Durchführung aber berechtigt schon jetzt zu dem freudigen Zugeständnis, daß
das Werk nach seinem Abschluß allgemein als eine Zierde der universalgeschicht¬
lichen Literatur anerkannt werden wird.




Gustav jreytags Soll und Haben
Heinrich Spiero von

ustav Freytag gehörte zu den in der deutschen Literaturgeschichte
nicht eben häufigen Persönlichkeiten, die von ihrer Generation,
von dem Geschlecht, inmitten dessen sie schufen, gleich erkannt,
froh begrüßt und mit dauerhafter Teilnahme begleitet wurden.
Im allgemeinen pflegt ja der mitschwingende Pendel zeitgenössischen
Interesses entweder nach der einen oder nach der andern Richtung zu weit
vorzustoßen. Wenn auf der einen Seite gerade der vollbürtige Genius keinen
Einfluß gewinnt und sich in den Seelen der Zeitgenossen mit dem Platz hinter
dem interessanten Talent oder dem gefälligen Unterhalter begnügen muß, werden
auf der andern Seite die Begabungen aufs höchste Piedestal gestellt, die. ohne
aus Urtiefen zu schöpfen, unbewußt den Ton der großen Menge finden. Daher
zur Zeit Freytags die Verkennung Hebbels. die heute noch nicht ganz über¬
wunden ist, und die Überschätzung Scheffels, die immer noch andauert.

Gustav Freytag aber, früh von den Besten willkommen geheißen, lebens¬
länglich ohne Überschwang mit jedem neuen Werk von der Nation wohl auf¬
genommen, von nicht gesuchter Fllrstengunst verwöhnt, als Politiker Genosse
eines großen Aufschwungs unsers Volks -- so ist er ein leider viel zu seltner
Typus deutscher Poetenschicksale. Wie sich auch hier Verdienst und Glück ver¬
ketten, haben des Dichters "Erinnerungen" mit dem bescheiden-stolzen Ton
dargestellt, der Gustav Freytag überall so wohl ansteht. Und nun hat ein
jüngerer Literarhistoriker, Hans Lindau, im Rahmen einer größern Biographie
die Persönlichkeit und die Arbeit Freytags noch einmal zu schildern unter¬
nommen. (Gustav Freytag von Hans Lindau mit einem Bildnis Freytags
nach Carl Stauffer und einem Faksimiledruck. Leipzig, S. Hirzel.) Haus


Grenzboten I 1908 61
Gustav Freytags Soll und Haben

Menschheit unter einheitlich universalen Gesichtspunkten können sie selbst bei
größter Vortrefflichkeit der Einzelleistungen ihrer Natur nach nicht bieten.
Schon daß Lindner als einzelner, der freilich von Anfang seiner wissenschaft¬
lichen Tätigkeit an nach eignem Bekenntnis das Einzelne stets nur unter
dem Gesichtspunkt des Universalen, die Spezialgeschichte nur als Vorarbeit zur
Universalgeschichte betrachtet hat, um den kühnen Wurf gewagt hat, sich zu
einer einheitlichen Erfassung und Darstellung der universalen Entwicklung zu
erheben, muß ihm als hohes Verdienst angerechnet werden. Die Art der
Durchführung aber berechtigt schon jetzt zu dem freudigen Zugeständnis, daß
das Werk nach seinem Abschluß allgemein als eine Zierde der universalgeschicht¬
lichen Literatur anerkannt werden wird.




Gustav jreytags Soll und Haben
Heinrich Spiero von

ustav Freytag gehörte zu den in der deutschen Literaturgeschichte
nicht eben häufigen Persönlichkeiten, die von ihrer Generation,
von dem Geschlecht, inmitten dessen sie schufen, gleich erkannt,
froh begrüßt und mit dauerhafter Teilnahme begleitet wurden.
Im allgemeinen pflegt ja der mitschwingende Pendel zeitgenössischen
Interesses entweder nach der einen oder nach der andern Richtung zu weit
vorzustoßen. Wenn auf der einen Seite gerade der vollbürtige Genius keinen
Einfluß gewinnt und sich in den Seelen der Zeitgenossen mit dem Platz hinter
dem interessanten Talent oder dem gefälligen Unterhalter begnügen muß, werden
auf der andern Seite die Begabungen aufs höchste Piedestal gestellt, die. ohne
aus Urtiefen zu schöpfen, unbewußt den Ton der großen Menge finden. Daher
zur Zeit Freytags die Verkennung Hebbels. die heute noch nicht ganz über¬
wunden ist, und die Überschätzung Scheffels, die immer noch andauert.

Gustav Freytag aber, früh von den Besten willkommen geheißen, lebens¬
länglich ohne Überschwang mit jedem neuen Werk von der Nation wohl auf¬
genommen, von nicht gesuchter Fllrstengunst verwöhnt, als Politiker Genosse
eines großen Aufschwungs unsers Volks — so ist er ein leider viel zu seltner
Typus deutscher Poetenschicksale. Wie sich auch hier Verdienst und Glück ver¬
ketten, haben des Dichters „Erinnerungen" mit dem bescheiden-stolzen Ton
dargestellt, der Gustav Freytag überall so wohl ansteht. Und nun hat ein
jüngerer Literarhistoriker, Hans Lindau, im Rahmen einer größern Biographie
die Persönlichkeit und die Arbeit Freytags noch einmal zu schildern unter¬
nommen. (Gustav Freytag von Hans Lindau mit einem Bildnis Freytags
nach Carl Stauffer und einem Faksimiledruck. Leipzig, S. Hirzel.) Haus


Grenzboten I 1908 61
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[0477] Gustav Freytags Soll und Haben Menschheit unter einheitlich universalen Gesichtspunkten können sie selbst bei größter Vortrefflichkeit der Einzelleistungen ihrer Natur nach nicht bieten. Schon daß Lindner als einzelner, der freilich von Anfang seiner wissenschaft¬ lichen Tätigkeit an nach eignem Bekenntnis das Einzelne stets nur unter dem Gesichtspunkt des Universalen, die Spezialgeschichte nur als Vorarbeit zur Universalgeschichte betrachtet hat, um den kühnen Wurf gewagt hat, sich zu einer einheitlichen Erfassung und Darstellung der universalen Entwicklung zu erheben, muß ihm als hohes Verdienst angerechnet werden. Die Art der Durchführung aber berechtigt schon jetzt zu dem freudigen Zugeständnis, daß das Werk nach seinem Abschluß allgemein als eine Zierde der universalgeschicht¬ lichen Literatur anerkannt werden wird. Gustav jreytags Soll und Haben Heinrich Spiero von ustav Freytag gehörte zu den in der deutschen Literaturgeschichte nicht eben häufigen Persönlichkeiten, die von ihrer Generation, von dem Geschlecht, inmitten dessen sie schufen, gleich erkannt, froh begrüßt und mit dauerhafter Teilnahme begleitet wurden. Im allgemeinen pflegt ja der mitschwingende Pendel zeitgenössischen Interesses entweder nach der einen oder nach der andern Richtung zu weit vorzustoßen. Wenn auf der einen Seite gerade der vollbürtige Genius keinen Einfluß gewinnt und sich in den Seelen der Zeitgenossen mit dem Platz hinter dem interessanten Talent oder dem gefälligen Unterhalter begnügen muß, werden auf der andern Seite die Begabungen aufs höchste Piedestal gestellt, die. ohne aus Urtiefen zu schöpfen, unbewußt den Ton der großen Menge finden. Daher zur Zeit Freytags die Verkennung Hebbels. die heute noch nicht ganz über¬ wunden ist, und die Überschätzung Scheffels, die immer noch andauert. Gustav Freytag aber, früh von den Besten willkommen geheißen, lebens¬ länglich ohne Überschwang mit jedem neuen Werk von der Nation wohl auf¬ genommen, von nicht gesuchter Fllrstengunst verwöhnt, als Politiker Genosse eines großen Aufschwungs unsers Volks — so ist er ein leider viel zu seltner Typus deutscher Poetenschicksale. Wie sich auch hier Verdienst und Glück ver¬ ketten, haben des Dichters „Erinnerungen" mit dem bescheiden-stolzen Ton dargestellt, der Gustav Freytag überall so wohl ansteht. Und nun hat ein jüngerer Literarhistoriker, Hans Lindau, im Rahmen einer größern Biographie die Persönlichkeit und die Arbeit Freytags noch einmal zu schildern unter¬ nommen. (Gustav Freytag von Hans Lindau mit einem Bildnis Freytags nach Carl Stauffer und einem Faksimiledruck. Leipzig, S. Hirzel.) Haus Grenzboten I 1908 61

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/477>, abgerufen am 04.05.2024.