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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Veit Valentin

aus einer falschen Perspektive, die ihnen übrigens, wie ich nach Harnack einmal
gezeigt habe, über die größten Schwierigkeiten der Kirchengründung weggeholfen
hat. Die Propheten hatten ein messicmisches Reich des Friedens und der Glück¬
seligkeit verheißen und unter andern Vorzügen dieses Reiches namentlich den
hervorgehoben, auf den sich Petrus in seiner Pfingstrede beruft, daß dann der
Geist Gottes ausgegossen sein werde über alles Fleisch, sodaß keiner mehr nötig
habe, von einem andern belehrt oder geleitet zu werden, jeder also autonom sei,
und Paulus glaubte das Ende des Zuchtmeisters Gesetz gekommen; die Chiliasten
aber träumten von der Verwirklichung dieser Verheißungen in einem tausend¬
jährigen irdischen Reiche, dessen Anbruch unmittelbar bevorstehe. Die Erfahrung
nötigte dann, auf alle solche Träume zu verzichten und den Zuchtmeister wieder
in sein Amt einzusetzen, dessen er übrigens nicht vergebens waltet, da er, zu¬
sammen mit dem Evangelium, in langwierigen Kämpfen und unter zahlreichen
Rückschlägen, humane Gesinnung und Gesittung allgemeiner verbreitet hat, als
sie es im Altertum war. Ob wir damit auch dem Ideal der allgemeinen Auto¬
nomie nähergekommen sind, wie Vogt glaubt (er gründet seinen Optimismus auf
die fortschreitende Demokratisierung der Kulturvölker), das mag ein jeder nach
seinen persönlichen Erfahrungen entscheiden. Sollte es der Fall sein, so würde
sich damit nicht eine neue, sondern die alte Idee der Propheten und des Ur¬
christentums verwirklichen. Also die Auffassung Vogts teile ich nicht, aber "das
Revolutionäre" in Luther und den Konflikt zwischen diesem und dem Katholischen
in Luthers Seele hat er gut und anziehend dargestellt, und darum habe ich sein
Carl Zentsch Buch ein schönes Buch genannt.




Veit Valentin

on einem aus Überraschung, Wehmut und Freude wunderbar ge¬
mischten Gefühl wurde ich ergriffen, als ich vor kurzem das Anfang
Mai v. I. herausgekommne stattliche Buch (von 554 Seiten in
Großoktav) Frankfurt am Main und die Revolution von
1848 -- 49 mit dem Verfassernamen Veit Valentin erblickte.
"Veit Valentin" hatte ich von 1870 bis 1900 unzähligem"! als den Antor-
namen gelesen, wenn mir der teure Freund der Universitätsjahre (1861 bis 1864)
jede seiner aus unermüdlichem Schaffensqnell sprudelnden mannigfachen wissen¬
schaftlichen Arbeiten zusandte, "Veit Valentin" war mir Lautklang und Zeichen
eines ganz klar ausgeprägten Bildes einer sehr eigenartigen und hochbegabten
geistigen Persönlichkeit, deren köstliches menschliches Wesen mir wohlbekannt
und vertraut tief in meinem Herzen wohnte -- da war am Weihnachtsheilig¬
abend 1900 nach ganz kurzer, schwerer Krankheit der Achtundfünfzigjührige in
das Reich der Schatten hinübergegangen, und für Neuerscheinungen der Literatur


Veit Valentin

aus einer falschen Perspektive, die ihnen übrigens, wie ich nach Harnack einmal
gezeigt habe, über die größten Schwierigkeiten der Kirchengründung weggeholfen
hat. Die Propheten hatten ein messicmisches Reich des Friedens und der Glück¬
seligkeit verheißen und unter andern Vorzügen dieses Reiches namentlich den
hervorgehoben, auf den sich Petrus in seiner Pfingstrede beruft, daß dann der
Geist Gottes ausgegossen sein werde über alles Fleisch, sodaß keiner mehr nötig
habe, von einem andern belehrt oder geleitet zu werden, jeder also autonom sei,
und Paulus glaubte das Ende des Zuchtmeisters Gesetz gekommen; die Chiliasten
aber träumten von der Verwirklichung dieser Verheißungen in einem tausend¬
jährigen irdischen Reiche, dessen Anbruch unmittelbar bevorstehe. Die Erfahrung
nötigte dann, auf alle solche Träume zu verzichten und den Zuchtmeister wieder
in sein Amt einzusetzen, dessen er übrigens nicht vergebens waltet, da er, zu¬
sammen mit dem Evangelium, in langwierigen Kämpfen und unter zahlreichen
Rückschlägen, humane Gesinnung und Gesittung allgemeiner verbreitet hat, als
sie es im Altertum war. Ob wir damit auch dem Ideal der allgemeinen Auto¬
nomie nähergekommen sind, wie Vogt glaubt (er gründet seinen Optimismus auf
die fortschreitende Demokratisierung der Kulturvölker), das mag ein jeder nach
seinen persönlichen Erfahrungen entscheiden. Sollte es der Fall sein, so würde
sich damit nicht eine neue, sondern die alte Idee der Propheten und des Ur¬
christentums verwirklichen. Also die Auffassung Vogts teile ich nicht, aber „das
Revolutionäre" in Luther und den Konflikt zwischen diesem und dem Katholischen
in Luthers Seele hat er gut und anziehend dargestellt, und darum habe ich sein
Carl Zentsch Buch ein schönes Buch genannt.




Veit Valentin

on einem aus Überraschung, Wehmut und Freude wunderbar ge¬
mischten Gefühl wurde ich ergriffen, als ich vor kurzem das Anfang
Mai v. I. herausgekommne stattliche Buch (von 554 Seiten in
Großoktav) Frankfurt am Main und die Revolution von
1848 — 49 mit dem Verfassernamen Veit Valentin erblickte.
„Veit Valentin" hatte ich von 1870 bis 1900 unzähligem«! als den Antor-
namen gelesen, wenn mir der teure Freund der Universitätsjahre (1861 bis 1864)
jede seiner aus unermüdlichem Schaffensqnell sprudelnden mannigfachen wissen¬
schaftlichen Arbeiten zusandte, „Veit Valentin" war mir Lautklang und Zeichen
eines ganz klar ausgeprägten Bildes einer sehr eigenartigen und hochbegabten
geistigen Persönlichkeit, deren köstliches menschliches Wesen mir wohlbekannt
und vertraut tief in meinem Herzen wohnte — da war am Weihnachtsheilig¬
abend 1900 nach ganz kurzer, schwerer Krankheit der Achtundfünfzigjührige in
das Reich der Schatten hinübergegangen, und für Neuerscheinungen der Literatur


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[0230] Veit Valentin aus einer falschen Perspektive, die ihnen übrigens, wie ich nach Harnack einmal gezeigt habe, über die größten Schwierigkeiten der Kirchengründung weggeholfen hat. Die Propheten hatten ein messicmisches Reich des Friedens und der Glück¬ seligkeit verheißen und unter andern Vorzügen dieses Reiches namentlich den hervorgehoben, auf den sich Petrus in seiner Pfingstrede beruft, daß dann der Geist Gottes ausgegossen sein werde über alles Fleisch, sodaß keiner mehr nötig habe, von einem andern belehrt oder geleitet zu werden, jeder also autonom sei, und Paulus glaubte das Ende des Zuchtmeisters Gesetz gekommen; die Chiliasten aber träumten von der Verwirklichung dieser Verheißungen in einem tausend¬ jährigen irdischen Reiche, dessen Anbruch unmittelbar bevorstehe. Die Erfahrung nötigte dann, auf alle solche Träume zu verzichten und den Zuchtmeister wieder in sein Amt einzusetzen, dessen er übrigens nicht vergebens waltet, da er, zu¬ sammen mit dem Evangelium, in langwierigen Kämpfen und unter zahlreichen Rückschlägen, humane Gesinnung und Gesittung allgemeiner verbreitet hat, als sie es im Altertum war. Ob wir damit auch dem Ideal der allgemeinen Auto¬ nomie nähergekommen sind, wie Vogt glaubt (er gründet seinen Optimismus auf die fortschreitende Demokratisierung der Kulturvölker), das mag ein jeder nach seinen persönlichen Erfahrungen entscheiden. Sollte es der Fall sein, so würde sich damit nicht eine neue, sondern die alte Idee der Propheten und des Ur¬ christentums verwirklichen. Also die Auffassung Vogts teile ich nicht, aber „das Revolutionäre" in Luther und den Konflikt zwischen diesem und dem Katholischen in Luthers Seele hat er gut und anziehend dargestellt, und darum habe ich sein Carl Zentsch Buch ein schönes Buch genannt. Veit Valentin on einem aus Überraschung, Wehmut und Freude wunderbar ge¬ mischten Gefühl wurde ich ergriffen, als ich vor kurzem das Anfang Mai v. I. herausgekommne stattliche Buch (von 554 Seiten in Großoktav) Frankfurt am Main und die Revolution von 1848 — 49 mit dem Verfassernamen Veit Valentin erblickte. „Veit Valentin" hatte ich von 1870 bis 1900 unzähligem«! als den Antor- namen gelesen, wenn mir der teure Freund der Universitätsjahre (1861 bis 1864) jede seiner aus unermüdlichem Schaffensqnell sprudelnden mannigfachen wissen¬ schaftlichen Arbeiten zusandte, „Veit Valentin" war mir Lautklang und Zeichen eines ganz klar ausgeprägten Bildes einer sehr eigenartigen und hochbegabten geistigen Persönlichkeit, deren köstliches menschliches Wesen mir wohlbekannt und vertraut tief in meinem Herzen wohnte — da war am Weihnachtsheilig¬ abend 1900 nach ganz kurzer, schwerer Krankheit der Achtundfünfzigjührige in das Reich der Schatten hinübergegangen, und für Neuerscheinungen der Literatur

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/230>, abgerufen am 28.04.2024.