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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Lines Toren waldfahrt

Noch tiefer wurde die Vorstellung des Schutzengels in meine Seele geprägt,
als der Lehrer oder der Kciplcm, von dem sich übrigens jede Spur aus meinem
Gedächtnis verloren hat, uns Kinder mit der Zeitschrift bekannt machte, die Ludwig
Auer in Donauwörth unter dem Titel Der Schutzengel herausgab und uns zum
Abonnement einlud. Ich kann über dieses Blättchen nicht urteilen, ich weiß nichts
mehr von seinem damaligen Inhalt, und später ist es mir nicht mehr zu Gesicht
gekommen, aber es war mir lieb. In der Mitte des Titelbildes stand ein Engel,
wie ich ihn träumte, Kinder an den Händen, Kinder an den Falten seines Ge¬
wandes und Güte in der Gebärde und im Blick. Meine Seele nahm auch dieses
dürftige Bildchen gern auf. Sie war damals glücklich. In ihr mischten sich helle
heitere Farben, das Grün der Wiesen, der Wälder und des Hetmatstroms, das
Weiß der Wolken, der Vogclschwingen und der Engelgewänder, das Blau des
Himmels, der Wiesenbache und der Elternaugen mit dem reichen Golde der Sonne
und mit schwermütigen, süßen Klängen.

Außer dem Naturlaut der Militärsignale klang damals noch ein süßes Lied
durch meine Seele: Lang, lang ists her. Meine Schwester und mein älterer
Bruder lernten Klavierspielen. Von ihnen hörte ich die schwermütige Weise. Den
Text und die Herkunft des Liedes habe ich erst nach vielen Jahren kennen gelernt.
Es rührte und weihte mein Herz und trug es empor. Leid ahnte ich und Glück,
wenn ich im Banne dieser Klänge war.

Das liebe Lied und das trauliche Bild des Schutzengels, das sich meine Seele
erträumt hatte, begleiteten mich, als meine Eltern in die Kirchenstadt am Main
zogen, über den Rhein. Dann verließen sie mich.




Eines Toren N)aldfahrt
von Ingeborg Umdrehen

>du Unterlaß braust der Westwind über das weite ebene Land, das
die Ufer der Nordsee säumt. Er singt den Herren auf deu stolzen
Werften wie den "kleinen Leuten" in den niedrigen Kater sein Lied --
das Wiegenlied wie den Grabgesang. Es ist das jauchzende
Triumphlied ihres uralten Feindes, der See, das sie immer von neuem
Jm Kampf und Mühen ruft. So lernten sie klar und nüchtern ins
Leben schauen und sich zu sorgen um die kommenden Tage; so lernten sie satt und
zufrieden sein, wenn ihre Sorge nicht lohnte. Und doch: eine stille Sehnsucht ruht
in ihrer aller Seele. Sie gilt dem Blaudämmernden, Unbekannten, Geheimnisvoller,
das fern, fern am östlichen Rande der weiten klaren Ebene in den Himmelsraum
hinei.nwcichst. Bald in tiefen ruhigen Farben und scharfen gigantischen Formen,
bald in matten verwischten Tönen und losen wvlkengleichen Gruppen grüßt es
herüber. Und wer seufzt unter dem satten Reichtum und der fruchtbaren Fülle
des Flachlandes, wer ängstlich und beklommen seine Stürme und seine Nebel erträgt,
hebt seine Augen zu den Höhen und Hügeln in, Osten, und seine Träume gehen
wandern durch das Dunkel ihrer Wälder.

Wer aber allezeit behaglich an vollen Tischen sitzt und Tag um Tag in sichrer
Gelassenheit kommen sieht, weiß bald nichts mehr von dem heimlichen Suchen seiner
jungen Seele; er vergaß ihrer längst auf ebenen mühelosem Wegen.


Lines Toren waldfahrt

Noch tiefer wurde die Vorstellung des Schutzengels in meine Seele geprägt,
als der Lehrer oder der Kciplcm, von dem sich übrigens jede Spur aus meinem
Gedächtnis verloren hat, uns Kinder mit der Zeitschrift bekannt machte, die Ludwig
Auer in Donauwörth unter dem Titel Der Schutzengel herausgab und uns zum
Abonnement einlud. Ich kann über dieses Blättchen nicht urteilen, ich weiß nichts
mehr von seinem damaligen Inhalt, und später ist es mir nicht mehr zu Gesicht
gekommen, aber es war mir lieb. In der Mitte des Titelbildes stand ein Engel,
wie ich ihn träumte, Kinder an den Händen, Kinder an den Falten seines Ge¬
wandes und Güte in der Gebärde und im Blick. Meine Seele nahm auch dieses
dürftige Bildchen gern auf. Sie war damals glücklich. In ihr mischten sich helle
heitere Farben, das Grün der Wiesen, der Wälder und des Hetmatstroms, das
Weiß der Wolken, der Vogclschwingen und der Engelgewänder, das Blau des
Himmels, der Wiesenbache und der Elternaugen mit dem reichen Golde der Sonne
und mit schwermütigen, süßen Klängen.

Außer dem Naturlaut der Militärsignale klang damals noch ein süßes Lied
durch meine Seele: Lang, lang ists her. Meine Schwester und mein älterer
Bruder lernten Klavierspielen. Von ihnen hörte ich die schwermütige Weise. Den
Text und die Herkunft des Liedes habe ich erst nach vielen Jahren kennen gelernt.
Es rührte und weihte mein Herz und trug es empor. Leid ahnte ich und Glück,
wenn ich im Banne dieser Klänge war.

Das liebe Lied und das trauliche Bild des Schutzengels, das sich meine Seele
erträumt hatte, begleiteten mich, als meine Eltern in die Kirchenstadt am Main
zogen, über den Rhein. Dann verließen sie mich.




Eines Toren N)aldfahrt
von Ingeborg Umdrehen

>du Unterlaß braust der Westwind über das weite ebene Land, das
die Ufer der Nordsee säumt. Er singt den Herren auf deu stolzen
Werften wie den „kleinen Leuten" in den niedrigen Kater sein Lied —
das Wiegenlied wie den Grabgesang. Es ist das jauchzende
Triumphlied ihres uralten Feindes, der See, das sie immer von neuem
Jm Kampf und Mühen ruft. So lernten sie klar und nüchtern ins
Leben schauen und sich zu sorgen um die kommenden Tage; so lernten sie satt und
zufrieden sein, wenn ihre Sorge nicht lohnte. Und doch: eine stille Sehnsucht ruht
in ihrer aller Seele. Sie gilt dem Blaudämmernden, Unbekannten, Geheimnisvoller,
das fern, fern am östlichen Rande der weiten klaren Ebene in den Himmelsraum
hinei.nwcichst. Bald in tiefen ruhigen Farben und scharfen gigantischen Formen,
bald in matten verwischten Tönen und losen wvlkengleichen Gruppen grüßt es
herüber. Und wer seufzt unter dem satten Reichtum und der fruchtbaren Fülle
des Flachlandes, wer ängstlich und beklommen seine Stürme und seine Nebel erträgt,
hebt seine Augen zu den Höhen und Hügeln in, Osten, und seine Träume gehen
wandern durch das Dunkel ihrer Wälder.

Wer aber allezeit behaglich an vollen Tischen sitzt und Tag um Tag in sichrer
Gelassenheit kommen sieht, weiß bald nichts mehr von dem heimlichen Suchen seiner
jungen Seele; er vergaß ihrer längst auf ebenen mühelosem Wegen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/43>, abgerufen am 27.04.2024.