Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite


Die Entstehung des chinesischen Staates
von Dr, R, Stube

SZM^
KWW> le Entstehung eines so bedeutenden Gebildes wie des chinesischen
Reiches ist trotz der Begabung der Chinesen für geschichtliche
Überlieferung und ihrer reichen historischen Literatur bisher in
lDunkel gehüllt. Denn es ist nur ein Schein, wenn eine Über-
! lieferung ziemlich umfangreiche Mitteilungen über die älteste
Zeit und den ersten Kaiser Huang-ti bietet. Der Euhemerismus der Chinesen
hat hier nur Märchen und Sagen als "Geschichte" kostümiert. Daß der Kaiser
Huang-ti selbst eine mythische Gestalt ist, geht aus den Erzählungen über seinen
Kampf mit dem tierköpsigen Tschi-yn hervor, an dem sich Tiere und Götter
beteiligen, wie aus dem Mythus von seiner Himmelfahrt auf dem Drachen.
Das ist alte Naturmythologie, aus der erst spätere Zeiten historisch-menschliche
Hergange gemacht haben.

Dem großen russischen Chinaforscher W. P. Wasslijew (gestorben 1900)
gebührt das Verdienst, als erster Europäer in die schwierige Frage der chine¬
sischen Urgeschichte Licht gebracht zu haben. Seither sind seine Ergebnisse
durch die Forschungen des Leipziger Sinologen Professor A. Conrady bestätigt
und ergänzt worden.

Prüft man die ältesten Urkunden und Sagen, vor allem auch die in
Sprache, Schrift und Religion niedergelegten Kulturzustände, so kaun eine vor¬
urteilslose Betrachtung nur die Annahme bestätigen, daß die chinesische Kultur
im Lande selbst aus primitiver Roheit erwachsen ist. Ihr ältestes Gebiet ist
die heutige Provinz Ho-nan mit dem südlichen Teile von Schau-si und dem
Westen von Schan-tung gewesen. Hier lagen die ältesten Städte und Heilig¬
tümer, hier saß die dichteste Bevölkerung. Vor allem gewähren uns die ältesten
Bestandteile der Schrift einen Einblick in die Anfänge der Kultur, wir blicken
hier in das Leben eines Bauernvolkes, das Viehzucht treibt. Bekanntlich drückt
jedes chinesische Zeichen ein Wort aus und ist ein primitives Bild, eine
Zeichnung der Gegenstände. In diesen Bildern ziehen so die sozialen und
politischen Verhältnisse der ältesten Zeit an uns vorüber. In Lößhöhlen, aber
auch schon im Backsteinhause, das Fenster hatte, wohnte der Chinese. Er
besitzt schon Tisch und Bett, Töpfe und Tiegel. Mit dem Pfluge bestellt er
den Acker, und mit Netzen fängt er Fische. Als Haustier wird vor allem das
Schaf gehalten, und der Hund ist auch hier der Genosse des Menschen-
Offenbar überwiegt aber schon das bäuerliche Leben; man kennt verschiedne
Getreidearten und mißt sie mit dem Scheffel, stampft die Körner im Mörser




Die Entstehung des chinesischen Staates
von Dr, R, Stube

SZM^
KWW> le Entstehung eines so bedeutenden Gebildes wie des chinesischen
Reiches ist trotz der Begabung der Chinesen für geschichtliche
Überlieferung und ihrer reichen historischen Literatur bisher in
lDunkel gehüllt. Denn es ist nur ein Schein, wenn eine Über-
! lieferung ziemlich umfangreiche Mitteilungen über die älteste
Zeit und den ersten Kaiser Huang-ti bietet. Der Euhemerismus der Chinesen
hat hier nur Märchen und Sagen als „Geschichte" kostümiert. Daß der Kaiser
Huang-ti selbst eine mythische Gestalt ist, geht aus den Erzählungen über seinen
Kampf mit dem tierköpsigen Tschi-yn hervor, an dem sich Tiere und Götter
beteiligen, wie aus dem Mythus von seiner Himmelfahrt auf dem Drachen.
Das ist alte Naturmythologie, aus der erst spätere Zeiten historisch-menschliche
Hergange gemacht haben.

Dem großen russischen Chinaforscher W. P. Wasslijew (gestorben 1900)
gebührt das Verdienst, als erster Europäer in die schwierige Frage der chine¬
sischen Urgeschichte Licht gebracht zu haben. Seither sind seine Ergebnisse
durch die Forschungen des Leipziger Sinologen Professor A. Conrady bestätigt
und ergänzt worden.

Prüft man die ältesten Urkunden und Sagen, vor allem auch die in
Sprache, Schrift und Religion niedergelegten Kulturzustände, so kaun eine vor¬
urteilslose Betrachtung nur die Annahme bestätigen, daß die chinesische Kultur
im Lande selbst aus primitiver Roheit erwachsen ist. Ihr ältestes Gebiet ist
die heutige Provinz Ho-nan mit dem südlichen Teile von Schau-si und dem
Westen von Schan-tung gewesen. Hier lagen die ältesten Städte und Heilig¬
tümer, hier saß die dichteste Bevölkerung. Vor allem gewähren uns die ältesten
Bestandteile der Schrift einen Einblick in die Anfänge der Kultur, wir blicken
hier in das Leben eines Bauernvolkes, das Viehzucht treibt. Bekanntlich drückt
jedes chinesische Zeichen ein Wort aus und ist ein primitives Bild, eine
Zeichnung der Gegenstände. In diesen Bildern ziehen so die sozialen und
politischen Verhältnisse der ältesten Zeit an uns vorüber. In Lößhöhlen, aber
auch schon im Backsteinhause, das Fenster hatte, wohnte der Chinese. Er
besitzt schon Tisch und Bett, Töpfe und Tiegel. Mit dem Pfluge bestellt er
den Acker, und mit Netzen fängt er Fische. Als Haustier wird vor allem das
Schaf gehalten, und der Hund ist auch hier der Genosse des Menschen-
Offenbar überwiegt aber schon das bäuerliche Leben; man kennt verschiedne
Getreidearten und mißt sie mit dem Scheffel, stampft die Körner im Mörser


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0456" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/314159"/>
          <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341889_313702/figures/grenzboten_341889_313702_314159_000.jpg"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Die Entstehung des chinesischen Staates<lb/><note type="byline"> von Dr, R, Stube</note></head><lb/>
          <p xml:id="ID_2196"> SZM^<lb/>
KWW&gt; le Entstehung eines so bedeutenden Gebildes wie des chinesischen<lb/>
Reiches ist trotz der Begabung der Chinesen für geschichtliche<lb/>
Überlieferung und ihrer reichen historischen Literatur bisher in<lb/>
lDunkel gehüllt. Denn es ist nur ein Schein, wenn eine Über-<lb/>
! lieferung ziemlich umfangreiche Mitteilungen über die älteste<lb/>
Zeit und den ersten Kaiser Huang-ti bietet. Der Euhemerismus der Chinesen<lb/>
hat hier nur Märchen und Sagen als &#x201E;Geschichte" kostümiert. Daß der Kaiser<lb/>
Huang-ti selbst eine mythische Gestalt ist, geht aus den Erzählungen über seinen<lb/>
Kampf mit dem tierköpsigen Tschi-yn hervor, an dem sich Tiere und Götter<lb/>
beteiligen, wie aus dem Mythus von seiner Himmelfahrt auf dem Drachen.<lb/>
Das ist alte Naturmythologie, aus der erst spätere Zeiten historisch-menschliche<lb/>
Hergange gemacht haben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2197"> Dem großen russischen Chinaforscher W. P. Wasslijew (gestorben 1900)<lb/>
gebührt das Verdienst, als erster Europäer in die schwierige Frage der chine¬<lb/>
sischen Urgeschichte Licht gebracht zu haben. Seither sind seine Ergebnisse<lb/>
durch die Forschungen des Leipziger Sinologen Professor A. Conrady bestätigt<lb/>
und ergänzt worden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2198" next="#ID_2199"> Prüft man die ältesten Urkunden und Sagen, vor allem auch die in<lb/>
Sprache, Schrift und Religion niedergelegten Kulturzustände, so kaun eine vor¬<lb/>
urteilslose Betrachtung nur die Annahme bestätigen, daß die chinesische Kultur<lb/>
im Lande selbst aus primitiver Roheit erwachsen ist. Ihr ältestes Gebiet ist<lb/>
die heutige Provinz Ho-nan mit dem südlichen Teile von Schau-si und dem<lb/>
Westen von Schan-tung gewesen. Hier lagen die ältesten Städte und Heilig¬<lb/>
tümer, hier saß die dichteste Bevölkerung. Vor allem gewähren uns die ältesten<lb/>
Bestandteile der Schrift einen Einblick in die Anfänge der Kultur, wir blicken<lb/>
hier in das Leben eines Bauernvolkes, das Viehzucht treibt. Bekanntlich drückt<lb/>
jedes chinesische Zeichen ein Wort aus und ist ein primitives Bild, eine<lb/>
Zeichnung der Gegenstände. In diesen Bildern ziehen so die sozialen und<lb/>
politischen Verhältnisse der ältesten Zeit an uns vorüber. In Lößhöhlen, aber<lb/>
auch schon im Backsteinhause, das Fenster hatte, wohnte der Chinese. Er<lb/>
besitzt schon Tisch und Bett, Töpfe und Tiegel. Mit dem Pfluge bestellt er<lb/>
den Acker, und mit Netzen fängt er Fische. Als Haustier wird vor allem das<lb/>
Schaf gehalten, und der Hund ist auch hier der Genosse des Menschen-<lb/>
Offenbar überwiegt aber schon das bäuerliche Leben; man kennt verschiedne<lb/>
Getreidearten und mißt sie mit dem Scheffel, stampft die Körner im Mörser</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0456] [Abbildung] Die Entstehung des chinesischen Staates von Dr, R, Stube SZM^ KWW> le Entstehung eines so bedeutenden Gebildes wie des chinesischen Reiches ist trotz der Begabung der Chinesen für geschichtliche Überlieferung und ihrer reichen historischen Literatur bisher in lDunkel gehüllt. Denn es ist nur ein Schein, wenn eine Über- ! lieferung ziemlich umfangreiche Mitteilungen über die älteste Zeit und den ersten Kaiser Huang-ti bietet. Der Euhemerismus der Chinesen hat hier nur Märchen und Sagen als „Geschichte" kostümiert. Daß der Kaiser Huang-ti selbst eine mythische Gestalt ist, geht aus den Erzählungen über seinen Kampf mit dem tierköpsigen Tschi-yn hervor, an dem sich Tiere und Götter beteiligen, wie aus dem Mythus von seiner Himmelfahrt auf dem Drachen. Das ist alte Naturmythologie, aus der erst spätere Zeiten historisch-menschliche Hergange gemacht haben. Dem großen russischen Chinaforscher W. P. Wasslijew (gestorben 1900) gebührt das Verdienst, als erster Europäer in die schwierige Frage der chine¬ sischen Urgeschichte Licht gebracht zu haben. Seither sind seine Ergebnisse durch die Forschungen des Leipziger Sinologen Professor A. Conrady bestätigt und ergänzt worden. Prüft man die ältesten Urkunden und Sagen, vor allem auch die in Sprache, Schrift und Religion niedergelegten Kulturzustände, so kaun eine vor¬ urteilslose Betrachtung nur die Annahme bestätigen, daß die chinesische Kultur im Lande selbst aus primitiver Roheit erwachsen ist. Ihr ältestes Gebiet ist die heutige Provinz Ho-nan mit dem südlichen Teile von Schau-si und dem Westen von Schan-tung gewesen. Hier lagen die ältesten Städte und Heilig¬ tümer, hier saß die dichteste Bevölkerung. Vor allem gewähren uns die ältesten Bestandteile der Schrift einen Einblick in die Anfänge der Kultur, wir blicken hier in das Leben eines Bauernvolkes, das Viehzucht treibt. Bekanntlich drückt jedes chinesische Zeichen ein Wort aus und ist ein primitives Bild, eine Zeichnung der Gegenstände. In diesen Bildern ziehen so die sozialen und politischen Verhältnisse der ältesten Zeit an uns vorüber. In Lößhöhlen, aber auch schon im Backsteinhause, das Fenster hatte, wohnte der Chinese. Er besitzt schon Tisch und Bett, Töpfe und Tiegel. Mit dem Pfluge bestellt er den Acker, und mit Netzen fängt er Fische. Als Haustier wird vor allem das Schaf gehalten, und der Hund ist auch hier der Genosse des Menschen- Offenbar überwiegt aber schon das bäuerliche Leben; man kennt verschiedne Getreidearten und mißt sie mit dem Scheffel, stampft die Körner im Mörser

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/456
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/456>, abgerufen am 27.04.2024.