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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Zu Vülows Rücktritt

."M!"s um? war in den letzten Wochen eine fast in allen Blättern
vorzufindende Überschrift eines Leitartikels. Es waren natürlich
in der großen Mehrzahl liberale Blätter, denn neben ihnen ver¬
schwindet ja die Zahl der wenigen nichtliberalen Journale, und
!auch die sogenannten unparteiischen Zeitungen haben in ihrem
Politischen Teile einen deutlich erkennbaren städtisch-liberalen Anstrich. Ja,
was nun? Man pflegt mit diesen Worten die eigne Ratlosigkeit auszudrücken.
Nach dem ersten entschiednen Hervortreten der neuen Neichstagsmehrheit, die
sich leider nicht mit der durch die Neuwahl vor zweieinhalb Jahren ausge-
sprochnen Richtung deckt, schallte es aus diesem gesamten Lager: Rücktritt des
Reichskanzlers! Dann trat nach der Annahme der Kotierungssteuer Fürst
Bülow wirklich zurück und bleibt nach seinem und des Kaisers Willen nur
noch bis zur Erledigung der Reichsfinanzgesetze, und wieder lauteten die
Überschriften: Was nun? Dazwischen erklang auch der Ruf innerhalb wie
außerhalb des Reichstags nach Neuwahlen. Die Kühle des Bundesrath hat
das Reich und auch die Liberalen vor solchen bewahrt, denn diese wären trotz
der augenblicklichen Mißstimmung gegen die konservative Parteileitung zu einer
unzweifelhaften Niederlage der Liberalen zugunsten der Sozialdemokratie ge¬
worden. So tief geht die augenblickliche Mißstimmung nicht, daß Konservative
in hellen Haufen ins liberale Lager gelaufen wären. Bei einer Neuwahl hätten
doch nur die Parteien sichere Aussichten gehabt, die über Wahlkreise verfügen,
die sie aus eigner Kraft und ohne Mithilfe andrer Parteien zu behaupten ver¬
mögen. Die Mehrzahl der liberalen Mandate liegt aber in Stichwahlkreisen,
von denen bei der letzten Wahl die meisten nur durch kräftige Unterstützung von
rechts den Sozialdemokraten entrissen werden konnten.

Von den vorliegenden Tatsachen ist die betrübendste die, daß Fürst Bülow
geht, defintiv gehn wird, selbst wenn sich die Konservativen in letzter Stunde
noch entschließen könnten, ihm das Opfer der schon herabgemäßigten Erbanfall¬
steuer zu bringen. Es ist falsch, wenn behauptet wird, daß das geschästs-


Grenzboten III 1909 8


Zu Vülows Rücktritt

.«M!«s um? war in den letzten Wochen eine fast in allen Blättern
vorzufindende Überschrift eines Leitartikels. Es waren natürlich
in der großen Mehrzahl liberale Blätter, denn neben ihnen ver¬
schwindet ja die Zahl der wenigen nichtliberalen Journale, und
!auch die sogenannten unparteiischen Zeitungen haben in ihrem
Politischen Teile einen deutlich erkennbaren städtisch-liberalen Anstrich. Ja,
was nun? Man pflegt mit diesen Worten die eigne Ratlosigkeit auszudrücken.
Nach dem ersten entschiednen Hervortreten der neuen Neichstagsmehrheit, die
sich leider nicht mit der durch die Neuwahl vor zweieinhalb Jahren ausge-
sprochnen Richtung deckt, schallte es aus diesem gesamten Lager: Rücktritt des
Reichskanzlers! Dann trat nach der Annahme der Kotierungssteuer Fürst
Bülow wirklich zurück und bleibt nach seinem und des Kaisers Willen nur
noch bis zur Erledigung der Reichsfinanzgesetze, und wieder lauteten die
Überschriften: Was nun? Dazwischen erklang auch der Ruf innerhalb wie
außerhalb des Reichstags nach Neuwahlen. Die Kühle des Bundesrath hat
das Reich und auch die Liberalen vor solchen bewahrt, denn diese wären trotz
der augenblicklichen Mißstimmung gegen die konservative Parteileitung zu einer
unzweifelhaften Niederlage der Liberalen zugunsten der Sozialdemokratie ge¬
worden. So tief geht die augenblickliche Mißstimmung nicht, daß Konservative
in hellen Haufen ins liberale Lager gelaufen wären. Bei einer Neuwahl hätten
doch nur die Parteien sichere Aussichten gehabt, die über Wahlkreise verfügen,
die sie aus eigner Kraft und ohne Mithilfe andrer Parteien zu behaupten ver¬
mögen. Die Mehrzahl der liberalen Mandate liegt aber in Stichwahlkreisen,
von denen bei der letzten Wahl die meisten nur durch kräftige Unterstützung von
rechts den Sozialdemokraten entrissen werden konnten.

Von den vorliegenden Tatsachen ist die betrübendste die, daß Fürst Bülow
geht, defintiv gehn wird, selbst wenn sich die Konservativen in letzter Stunde
noch entschließen könnten, ihm das Opfer der schon herabgemäßigten Erbanfall¬
steuer zu bringen. Es ist falsch, wenn behauptet wird, daß das geschästs-


Grenzboten III 1909 8
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[0061] [Abbildung] Zu Vülows Rücktritt .«M!«s um? war in den letzten Wochen eine fast in allen Blättern vorzufindende Überschrift eines Leitartikels. Es waren natürlich in der großen Mehrzahl liberale Blätter, denn neben ihnen ver¬ schwindet ja die Zahl der wenigen nichtliberalen Journale, und !auch die sogenannten unparteiischen Zeitungen haben in ihrem Politischen Teile einen deutlich erkennbaren städtisch-liberalen Anstrich. Ja, was nun? Man pflegt mit diesen Worten die eigne Ratlosigkeit auszudrücken. Nach dem ersten entschiednen Hervortreten der neuen Neichstagsmehrheit, die sich leider nicht mit der durch die Neuwahl vor zweieinhalb Jahren ausge- sprochnen Richtung deckt, schallte es aus diesem gesamten Lager: Rücktritt des Reichskanzlers! Dann trat nach der Annahme der Kotierungssteuer Fürst Bülow wirklich zurück und bleibt nach seinem und des Kaisers Willen nur noch bis zur Erledigung der Reichsfinanzgesetze, und wieder lauteten die Überschriften: Was nun? Dazwischen erklang auch der Ruf innerhalb wie außerhalb des Reichstags nach Neuwahlen. Die Kühle des Bundesrath hat das Reich und auch die Liberalen vor solchen bewahrt, denn diese wären trotz der augenblicklichen Mißstimmung gegen die konservative Parteileitung zu einer unzweifelhaften Niederlage der Liberalen zugunsten der Sozialdemokratie ge¬ worden. So tief geht die augenblickliche Mißstimmung nicht, daß Konservative in hellen Haufen ins liberale Lager gelaufen wären. Bei einer Neuwahl hätten doch nur die Parteien sichere Aussichten gehabt, die über Wahlkreise verfügen, die sie aus eigner Kraft und ohne Mithilfe andrer Parteien zu behaupten ver¬ mögen. Die Mehrzahl der liberalen Mandate liegt aber in Stichwahlkreisen, von denen bei der letzten Wahl die meisten nur durch kräftige Unterstützung von rechts den Sozialdemokraten entrissen werden konnten. Von den vorliegenden Tatsachen ist die betrübendste die, daß Fürst Bülow geht, defintiv gehn wird, selbst wenn sich die Konservativen in letzter Stunde noch entschließen könnten, ihm das Opfer der schon herabgemäßigten Erbanfall¬ steuer zu bringen. Es ist falsch, wenn behauptet wird, daß das geschästs- Grenzboten III 1909 8

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/61>, abgerufen am 28.04.2024.