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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Vreslau
von Carl Jentsch 1

AM
NWcum man (vor den Ferien) etwa in Leipzig die Absicht äußert,
man wolle nach Schlesien, so begegnet man leicht verwunderten
Blicken und Fragen, da man es ja bis München kaum viel
weiter habe -- schreibt Otto Kaemmel in seinen Bildern aus der
I Grafschaft Glatz. Die in Mittel- und Westdeutschland herrschenden
Vorurteile gegen das große und schöne Land sind leicht zu erklären. Es ge¬
hört zu Ostelbien, und Ostelbien ist -- nicht zu gedenken des Geschreis gegen
Junker und Feudalität -- eine Ebene. Zwar haben schon die niederländischen
Maler gezeigt, daß man in der Ebene, wo sich immer nur Bäume und Wasser
zusammenfinden, die lieblichsten Landschaftsbilder genießen kann, aber in
großen Ebenen, die vorherrschend dem Ackerbau dienen, muß man doch oft
stundenweit durch Getreide- und Kartoffelfelder wandern, ehe man wieder zu
einer aus einem Park, einem Wäldchen, einem Eichen- oder Buchenwalde be¬
stehenden ästhetischen Oase gelangt, während man im Gebirge aus den beständig
wechselnden interessanten Ansichten gar nicht herauskommt. Da nun der
Tourist -- und dieser bestimmt heute das Urteil über Land und Leute; ehe¬
dem entschieden der Kaufmann, der Missionar, der abenteuernde Sänger,
Ritter, Söldner oder Gaukler, die ganz andre Interessen hatten -- Ostelbien
nicht besucht, so wird auch dessen gebirgiger südlicher Rand, der es an Schön¬
heit mit jedem deutschen Mittelgebirge aufnimmt, vernachlässigt und bleibt
unbekannt. Und nicht bloß das eigentliche Gebirge ist schön; wer, mit Zeit
und den erforderlichen leiblichen und geistigen Eigenschaften ausgerüstet, den
gesegneten hügligen Streifen am Nordabhänge der Sudeten durchwandert
mit seinen reichen Fruchtfeldern und Auen, seinen sich stundenlang hinziehenden
Dörfern, deren große, wohlgebaute Höfe und saubere Kleiubauernhäuscheu
aus Obst- und Blumengärten hervorlugeu, mit seinen stolzen Schlössern und
ragenden Kirchtürmen, der würde sich und seinen Lesern nicht weniger Genuß
bereiten können wie Otto Eduard Schmidt mit seinen Wanderungen im Meißner
Lande und Fritz Gräntz mit seinen fränkisch-schwäbischen Grenzwanderungen.
Auch die stattlichen und freundlichen Städte von Görlitz bis Ratibor, deren
jede von einem Kranze schöner Anlagen umgeben ist, würden ihm gefallen.
An historischen Erinnerungen freilich können sich diese mit ihren Mittel- und




Vreslau
von Carl Jentsch 1

AM
NWcum man (vor den Ferien) etwa in Leipzig die Absicht äußert,
man wolle nach Schlesien, so begegnet man leicht verwunderten
Blicken und Fragen, da man es ja bis München kaum viel
weiter habe — schreibt Otto Kaemmel in seinen Bildern aus der
I Grafschaft Glatz. Die in Mittel- und Westdeutschland herrschenden
Vorurteile gegen das große und schöne Land sind leicht zu erklären. Es ge¬
hört zu Ostelbien, und Ostelbien ist — nicht zu gedenken des Geschreis gegen
Junker und Feudalität — eine Ebene. Zwar haben schon die niederländischen
Maler gezeigt, daß man in der Ebene, wo sich immer nur Bäume und Wasser
zusammenfinden, die lieblichsten Landschaftsbilder genießen kann, aber in
großen Ebenen, die vorherrschend dem Ackerbau dienen, muß man doch oft
stundenweit durch Getreide- und Kartoffelfelder wandern, ehe man wieder zu
einer aus einem Park, einem Wäldchen, einem Eichen- oder Buchenwalde be¬
stehenden ästhetischen Oase gelangt, während man im Gebirge aus den beständig
wechselnden interessanten Ansichten gar nicht herauskommt. Da nun der
Tourist — und dieser bestimmt heute das Urteil über Land und Leute; ehe¬
dem entschieden der Kaufmann, der Missionar, der abenteuernde Sänger,
Ritter, Söldner oder Gaukler, die ganz andre Interessen hatten — Ostelbien
nicht besucht, so wird auch dessen gebirgiger südlicher Rand, der es an Schön¬
heit mit jedem deutschen Mittelgebirge aufnimmt, vernachlässigt und bleibt
unbekannt. Und nicht bloß das eigentliche Gebirge ist schön; wer, mit Zeit
und den erforderlichen leiblichen und geistigen Eigenschaften ausgerüstet, den
gesegneten hügligen Streifen am Nordabhänge der Sudeten durchwandert
mit seinen reichen Fruchtfeldern und Auen, seinen sich stundenlang hinziehenden
Dörfern, deren große, wohlgebaute Höfe und saubere Kleiubauernhäuscheu
aus Obst- und Blumengärten hervorlugeu, mit seinen stolzen Schlössern und
ragenden Kirchtürmen, der würde sich und seinen Lesern nicht weniger Genuß
bereiten können wie Otto Eduard Schmidt mit seinen Wanderungen im Meißner
Lande und Fritz Gräntz mit seinen fränkisch-schwäbischen Grenzwanderungen.
Auch die stattlichen und freundlichen Städte von Görlitz bis Ratibor, deren
jede von einem Kranze schöner Anlagen umgeben ist, würden ihm gefallen.
An historischen Erinnerungen freilich können sich diese mit ihren Mittel- und


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[0172] [Abbildung] Vreslau von Carl Jentsch 1 AM NWcum man (vor den Ferien) etwa in Leipzig die Absicht äußert, man wolle nach Schlesien, so begegnet man leicht verwunderten Blicken und Fragen, da man es ja bis München kaum viel weiter habe — schreibt Otto Kaemmel in seinen Bildern aus der I Grafschaft Glatz. Die in Mittel- und Westdeutschland herrschenden Vorurteile gegen das große und schöne Land sind leicht zu erklären. Es ge¬ hört zu Ostelbien, und Ostelbien ist — nicht zu gedenken des Geschreis gegen Junker und Feudalität — eine Ebene. Zwar haben schon die niederländischen Maler gezeigt, daß man in der Ebene, wo sich immer nur Bäume und Wasser zusammenfinden, die lieblichsten Landschaftsbilder genießen kann, aber in großen Ebenen, die vorherrschend dem Ackerbau dienen, muß man doch oft stundenweit durch Getreide- und Kartoffelfelder wandern, ehe man wieder zu einer aus einem Park, einem Wäldchen, einem Eichen- oder Buchenwalde be¬ stehenden ästhetischen Oase gelangt, während man im Gebirge aus den beständig wechselnden interessanten Ansichten gar nicht herauskommt. Da nun der Tourist — und dieser bestimmt heute das Urteil über Land und Leute; ehe¬ dem entschieden der Kaufmann, der Missionar, der abenteuernde Sänger, Ritter, Söldner oder Gaukler, die ganz andre Interessen hatten — Ostelbien nicht besucht, so wird auch dessen gebirgiger südlicher Rand, der es an Schön¬ heit mit jedem deutschen Mittelgebirge aufnimmt, vernachlässigt und bleibt unbekannt. Und nicht bloß das eigentliche Gebirge ist schön; wer, mit Zeit und den erforderlichen leiblichen und geistigen Eigenschaften ausgerüstet, den gesegneten hügligen Streifen am Nordabhänge der Sudeten durchwandert mit seinen reichen Fruchtfeldern und Auen, seinen sich stundenlang hinziehenden Dörfern, deren große, wohlgebaute Höfe und saubere Kleiubauernhäuscheu aus Obst- und Blumengärten hervorlugeu, mit seinen stolzen Schlössern und ragenden Kirchtürmen, der würde sich und seinen Lesern nicht weniger Genuß bereiten können wie Otto Eduard Schmidt mit seinen Wanderungen im Meißner Lande und Fritz Gräntz mit seinen fränkisch-schwäbischen Grenzwanderungen. Auch die stattlichen und freundlichen Städte von Görlitz bis Ratibor, deren jede von einem Kranze schöner Anlagen umgeben ist, würden ihm gefallen. An historischen Erinnerungen freilich können sich diese mit ihren Mittel- und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/172>, abgerufen am 03.05.2024.