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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Neue Arbeit im Reichstag
von Wilhelm von Massow

is der jetzige Reichstag zu Anfang des Jahres 1907 zusammen¬
trat, und die Augen der Mehrheit des deutschen Volks nach
längerer Zeit zum erstenmal wieder hoffnungsfreudig auf seiner
parlamentarischen Vertretung ruhten, haben wohl selbst die berufs¬
mäßigen Schwarzseher nicht geglaubt, daß schon die zweite Session
dieses Reichstags im Zeichen vollständiger Unklarheit und gründlicher Ver¬
stimmung eröffnet werden würde. Leider ist kein Zweifel möglich: das Barometer
der innern Politik des Reichs steht so tief, wie seit langer Zeit nicht, und wir
haben auf manchen Sturm zu rechnen. Soweit es also überhaupt möglich
ist, etwas darüber vorauszusagen, müssen wir uns auf einen recht unerfreu¬
lichen parlamentarischen Winterfeldzug gefaßt machen.

Wenn wir wieder vor einer großen, die Lage beherrschenden politischen
Frage stünden, dann würde es vielleicht eher gelingen, die Aufmerksamkeit mehr
von der Vergangenheit abzuziehen und sie auf die vor uns liegende Arbeit
hinzulenken. In Wirklichkeit ist aber zu fürchten, daß die Neigung zu ver¬
hängnisvollen Rückblicken auf das Vergangne stärker sein wird als der Zwang.
Praktische Arbeit für die Zukunft zu leisten; denn größere Aufgaben, von denen
ein solcher Zwang ausgehen könnte, werden kaum vorhanden sein. Zwar wird
Wohl versucht werden, die Strafrcchtsreform ein gutes Stück zu fördern, aber
schon die Reform der Strafprozeßordnung hat noch einen weiten Weg zu
durchmessen, bis das neue Gesetz fertig ist -- ganz zu schweigen von dem
neuen Strafgesetzbuch, dessen erster, vorläufig der öffentlichen Kritik unterbreiteter
Entwurf nur die Einleitung zu der Vorarbeit ist. die der verfassungsmäßigen
Behandlung durch die gesetzgebenden Gewalten des Reichs voranzugehen hat.
Es bleibt also als Hauptarbeit für die jetzt beginnende Neichstagssession der
Etat für das Rechnungsjahr 1910, und da das Osterfest noch einige Tage vor
den Schluß des laufenden Etatsjahrs fällt, so ist schon durch diesen zufälligen


Grenzboten IV 1909 20


Neue Arbeit im Reichstag
von Wilhelm von Massow

is der jetzige Reichstag zu Anfang des Jahres 1907 zusammen¬
trat, und die Augen der Mehrheit des deutschen Volks nach
längerer Zeit zum erstenmal wieder hoffnungsfreudig auf seiner
parlamentarischen Vertretung ruhten, haben wohl selbst die berufs¬
mäßigen Schwarzseher nicht geglaubt, daß schon die zweite Session
dieses Reichstags im Zeichen vollständiger Unklarheit und gründlicher Ver¬
stimmung eröffnet werden würde. Leider ist kein Zweifel möglich: das Barometer
der innern Politik des Reichs steht so tief, wie seit langer Zeit nicht, und wir
haben auf manchen Sturm zu rechnen. Soweit es also überhaupt möglich
ist, etwas darüber vorauszusagen, müssen wir uns auf einen recht unerfreu¬
lichen parlamentarischen Winterfeldzug gefaßt machen.

Wenn wir wieder vor einer großen, die Lage beherrschenden politischen
Frage stünden, dann würde es vielleicht eher gelingen, die Aufmerksamkeit mehr
von der Vergangenheit abzuziehen und sie auf die vor uns liegende Arbeit
hinzulenken. In Wirklichkeit ist aber zu fürchten, daß die Neigung zu ver¬
hängnisvollen Rückblicken auf das Vergangne stärker sein wird als der Zwang.
Praktische Arbeit für die Zukunft zu leisten; denn größere Aufgaben, von denen
ein solcher Zwang ausgehen könnte, werden kaum vorhanden sein. Zwar wird
Wohl versucht werden, die Strafrcchtsreform ein gutes Stück zu fördern, aber
schon die Reform der Strafprozeßordnung hat noch einen weiten Weg zu
durchmessen, bis das neue Gesetz fertig ist — ganz zu schweigen von dem
neuen Strafgesetzbuch, dessen erster, vorläufig der öffentlichen Kritik unterbreiteter
Entwurf nur die Einleitung zu der Vorarbeit ist. die der verfassungsmäßigen
Behandlung durch die gesetzgebenden Gewalten des Reichs voranzugehen hat.
Es bleibt also als Hauptarbeit für die jetzt beginnende Neichstagssession der
Etat für das Rechnungsjahr 1910, und da das Osterfest noch einige Tage vor
den Schluß des laufenden Etatsjahrs fällt, so ist schon durch diesen zufälligen


Grenzboten IV 1909 20
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[0397] [Abbildung] Neue Arbeit im Reichstag von Wilhelm von Massow is der jetzige Reichstag zu Anfang des Jahres 1907 zusammen¬ trat, und die Augen der Mehrheit des deutschen Volks nach längerer Zeit zum erstenmal wieder hoffnungsfreudig auf seiner parlamentarischen Vertretung ruhten, haben wohl selbst die berufs¬ mäßigen Schwarzseher nicht geglaubt, daß schon die zweite Session dieses Reichstags im Zeichen vollständiger Unklarheit und gründlicher Ver¬ stimmung eröffnet werden würde. Leider ist kein Zweifel möglich: das Barometer der innern Politik des Reichs steht so tief, wie seit langer Zeit nicht, und wir haben auf manchen Sturm zu rechnen. Soweit es also überhaupt möglich ist, etwas darüber vorauszusagen, müssen wir uns auf einen recht unerfreu¬ lichen parlamentarischen Winterfeldzug gefaßt machen. Wenn wir wieder vor einer großen, die Lage beherrschenden politischen Frage stünden, dann würde es vielleicht eher gelingen, die Aufmerksamkeit mehr von der Vergangenheit abzuziehen und sie auf die vor uns liegende Arbeit hinzulenken. In Wirklichkeit ist aber zu fürchten, daß die Neigung zu ver¬ hängnisvollen Rückblicken auf das Vergangne stärker sein wird als der Zwang. Praktische Arbeit für die Zukunft zu leisten; denn größere Aufgaben, von denen ein solcher Zwang ausgehen könnte, werden kaum vorhanden sein. Zwar wird Wohl versucht werden, die Strafrcchtsreform ein gutes Stück zu fördern, aber schon die Reform der Strafprozeßordnung hat noch einen weiten Weg zu durchmessen, bis das neue Gesetz fertig ist — ganz zu schweigen von dem neuen Strafgesetzbuch, dessen erster, vorläufig der öffentlichen Kritik unterbreiteter Entwurf nur die Einleitung zu der Vorarbeit ist. die der verfassungsmäßigen Behandlung durch die gesetzgebenden Gewalten des Reichs voranzugehen hat. Es bleibt also als Hauptarbeit für die jetzt beginnende Neichstagssession der Etat für das Rechnungsjahr 1910, und da das Osterfest noch einige Tage vor den Schluß des laufenden Etatsjahrs fällt, so ist schon durch diesen zufälligen Grenzboten IV 1909 20

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/397>, abgerufen am 04.05.2024.