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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Das Unlturxroblem und die Religion

neue, große Liebe zur Arbeit und eine sittliche Neubewertung der Arbeit selbst.
Es handelt sich allenthalben um moralische Predigt und um ein neuerwachtes
Verpflichtungsgefühl gegenüber der in uns drängenden Schöpfung, die nur durch
uns weiterwachsen will und kann. Und Kultur will ja wachsen und nicht
gemacht sein! Die rationellsten Reißbrettaufrisse und die beste Fixigkeit in einem
Dutzend alten Stilen, auch die schönsten Programme helfen hier nichts, wenn
nicht eine Wendung im Innern erfolgt und nicht aus den Tiefen der Empfindung,
des Gefühls, Geschmacks und sittlichen Willens die neue Welle neuer Sehn¬
sucht steigt.

Und eben diese Sehnsucht ist wieder wach und lebendig geworden. Sie
wurde naturgemäß zuerst lebendig gegenüber der Not und dem Druck, womit
die in Unnatur und Verlogenheit geratene Sachenkultur den armen Menschen
zu malträtieren begann. Aber diese Selbstbesinnung gegenüber den: Reiche
der Sachen muß sich in noch viel höherem Grade, als bisher, auch nach innen
wenden und zu einer Selbstbesinnung im Reiche der Seele führen.
Denn eine harmonische Autzenkultur ist zuletzt und umfassend nur möglich durch
eine Harmonie im Inneren. Aber ebenda mangelt es uns. Und zwar hat
uns dieselbe Verirrung, die uns draußen in Unkultur gestürzt hat, auch drinnen
und im Reiche der Seele zu Unkultur verdammt. Da draußen lösten die Dinge
sich von uns los und trieben es mit uns, wie sie wollten, und drinnen lösten
sich die einzelnen Triebe und Kräfte von uus und der organischen Seeleueinheit
los und trieben es auch, wie sie wollten. Und also geschah es, daß dieser
moderne Herr und Gebieter aller Naturkräfte ein Knecht und Sklave seiner
auseinander strebenden Geister, eine Disharmonie in sich selber wurde und
damit kulturell notwendig so herunterkam, wie er gekommen ist. Er beschönigte
das alles zwar mit der "Macht der Verhältnisse", aber vergaß, daß es für
Mensch und Menschengeist nur einen einzigen Beruf und Adel gibt: die Macht
des Geistes über die Verhältnisse zu stabilieren!


5.

Wir haben hinsichtlich unserer Geistigkeit jahrzehntelang in Zerrissenheit
und Spezialkultur gesessen. Wir haben die einzelnen Kräfte unseres Seelen¬
ganzen gründlichst voneinander isoliert, miteinander verfeindet, durcheinander
aufgehoben. Ich glaube, auch das war eine notwendige und zuletzt heilsame
Durchgangsstation zum neuen und großen Ziele. Es war der Schatten zum
neuen Licht, das mit dein Protestantismus aufging. Der Protestantismus
löschte alle äußere Autorität aus und stellte den Menschen auf sich selbst und
auf die Unmittelbarkeit der Seele, in der das Göttliche sei und wirke. Der auf
sich selbst gestellte Mensch wußte aber bald nichts Besseres mit sich anzufangen, als
daß er Schritt um Schritt auch seine Einzelkräfte auf sich selber stellte. Erst
die Wissenschaft, dann die Moral, dann die Kunst, und jede kultivierte sich, als
wäre sie das Ganze, auf Kosten des Ganzen. Hatte vorher im katholischen Zeitalter


Das Unlturxroblem und die Religion

neue, große Liebe zur Arbeit und eine sittliche Neubewertung der Arbeit selbst.
Es handelt sich allenthalben um moralische Predigt und um ein neuerwachtes
Verpflichtungsgefühl gegenüber der in uns drängenden Schöpfung, die nur durch
uns weiterwachsen will und kann. Und Kultur will ja wachsen und nicht
gemacht sein! Die rationellsten Reißbrettaufrisse und die beste Fixigkeit in einem
Dutzend alten Stilen, auch die schönsten Programme helfen hier nichts, wenn
nicht eine Wendung im Innern erfolgt und nicht aus den Tiefen der Empfindung,
des Gefühls, Geschmacks und sittlichen Willens die neue Welle neuer Sehn¬
sucht steigt.

Und eben diese Sehnsucht ist wieder wach und lebendig geworden. Sie
wurde naturgemäß zuerst lebendig gegenüber der Not und dem Druck, womit
die in Unnatur und Verlogenheit geratene Sachenkultur den armen Menschen
zu malträtieren begann. Aber diese Selbstbesinnung gegenüber den: Reiche
der Sachen muß sich in noch viel höherem Grade, als bisher, auch nach innen
wenden und zu einer Selbstbesinnung im Reiche der Seele führen.
Denn eine harmonische Autzenkultur ist zuletzt und umfassend nur möglich durch
eine Harmonie im Inneren. Aber ebenda mangelt es uns. Und zwar hat
uns dieselbe Verirrung, die uns draußen in Unkultur gestürzt hat, auch drinnen
und im Reiche der Seele zu Unkultur verdammt. Da draußen lösten die Dinge
sich von uns los und trieben es mit uns, wie sie wollten, und drinnen lösten
sich die einzelnen Triebe und Kräfte von uus und der organischen Seeleueinheit
los und trieben es auch, wie sie wollten. Und also geschah es, daß dieser
moderne Herr und Gebieter aller Naturkräfte ein Knecht und Sklave seiner
auseinander strebenden Geister, eine Disharmonie in sich selber wurde und
damit kulturell notwendig so herunterkam, wie er gekommen ist. Er beschönigte
das alles zwar mit der „Macht der Verhältnisse", aber vergaß, daß es für
Mensch und Menschengeist nur einen einzigen Beruf und Adel gibt: die Macht
des Geistes über die Verhältnisse zu stabilieren!


5.

Wir haben hinsichtlich unserer Geistigkeit jahrzehntelang in Zerrissenheit
und Spezialkultur gesessen. Wir haben die einzelnen Kräfte unseres Seelen¬
ganzen gründlichst voneinander isoliert, miteinander verfeindet, durcheinander
aufgehoben. Ich glaube, auch das war eine notwendige und zuletzt heilsame
Durchgangsstation zum neuen und großen Ziele. Es war der Schatten zum
neuen Licht, das mit dein Protestantismus aufging. Der Protestantismus
löschte alle äußere Autorität aus und stellte den Menschen auf sich selbst und
auf die Unmittelbarkeit der Seele, in der das Göttliche sei und wirke. Der auf
sich selbst gestellte Mensch wußte aber bald nichts Besseres mit sich anzufangen, als
daß er Schritt um Schritt auch seine Einzelkräfte auf sich selber stellte. Erst
die Wissenschaft, dann die Moral, dann die Kunst, und jede kultivierte sich, als
wäre sie das Ganze, auf Kosten des Ganzen. Hatte vorher im katholischen Zeitalter


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/169>, abgerufen am 05.05.2024.