Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Maßgebliches und Unmaßgebliches

ich am nächsten Tage hinging, erfuhr ich, daß der Major mit seiner Tochter schon
zeitig am Morgen abgereist war.

Ich weiß nicht, wie sie ihren ganz nüchtern und alltäglich denkenden Vater
so vollständig auf ihre Seite ziehen konnte, daß er nicht einmal durch einen Brief
wenigstens seinerseits eine Verständigung herbeizuführen suchte. Ich bin den beiden
nie wieder im Leben begegnet und weiß nicht, was aus ihnen geworden ist. Ich
weiß seit jenem Erlebnisse nur, daß es zwischen dem sogenannten Charakter und
zwischen Überspanntheit keine deutliche, unverrückbare Grenze gibt.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
In der Kolonialpolitik

können wir von der kommenden ReichstagS-
session wohl die Erledigung schwebender Fragen erwarten, nachdem es dem neuen
Staatssekretär gelungen ist, die Gouverueursposten von Südwestafrika und Kamerun
in befriedigender Weise neu zu besetzen. Ehe wir auf diese Gouverneurswechsel
eingehen, müssen wir ein paar Worte über den neuen Staatssekretär voraus¬
schicken. Mit einiger Beflissenheit ist bei Dernburgs Abgang immer wieder ver¬
sichert worden daß der Wechsel in der Oberleitung der Kolonialverwaltung an
unsrer Kolonialpolitik nichts ändern werde. Das dürfte, wenn wir tue Dinge
rein mechanisch betrachten, zutreffen. Einen äußerlich erkennbaren "neuen Kurs'
werden wir nicht bekommen. Aber der Geist unsrer Kolonialpolitik durfte doch
ein anderer werden. Herr v. Lindequist huldigt in verschiedenen kolonialen Lebens¬
fragen andern Anschauungen als Herr Dernburg. Und eben wegen dieser
Anschauungen ist seine Wahl besonders freudig begrüßt worden. Es hieße die
Fähigkeiten des neuen Staatssekretärs heruntersetzen, wenn wir ihm zumuten
wollten, einfach den Nachläufer Dernburgs zu spielen. Wir wissen, daß er über
die Eingeborenenpolitik anders denkt als Dernburg. und daß ihm ausgesprochener¬
maßen die Besiedlung möglichst großer Gebiete unsrer Kolonien nut Deutschen
am Herzen liegt. Und während Dernburg ein entschieden autokratlscher Charakter
war und sich nur selten dreinreden ließ, liebt der neue Staatssekretär mehr die
freundschaftliche Fühlungnahme mit den in Frage kommenden Kreisen.

Diese seine Wesensart kommt auch in der Wahl der neuen Gouverneure für
Südwest und Kamerun zum Ausdruck. Gouverneur Seitz hat in Kamerun mit
den Ansiedlern in selten gutem Einvernehmen gelebt und die auch dort vorhandenen
Gegensätze geschickt auszugleichen verstanden. Man sieht ihn dort ungern scheiden.
Unter seiner Leitung hat in Kamerun die wirtschaftliche Entwickelung einen
bemerkenswerten Aufschwung genommen, der nicht zum wenigsten seiner Politik
des Entgegenkommens zuzuschreiben ist. Sein Nachfolger Dr. Gleim ist ein durchaus


Maßgebliches und Unmaßgebliches

ich am nächsten Tage hinging, erfuhr ich, daß der Major mit seiner Tochter schon
zeitig am Morgen abgereist war.

Ich weiß nicht, wie sie ihren ganz nüchtern und alltäglich denkenden Vater
so vollständig auf ihre Seite ziehen konnte, daß er nicht einmal durch einen Brief
wenigstens seinerseits eine Verständigung herbeizuführen suchte. Ich bin den beiden
nie wieder im Leben begegnet und weiß nicht, was aus ihnen geworden ist. Ich
weiß seit jenem Erlebnisse nur, daß es zwischen dem sogenannten Charakter und
zwischen Überspanntheit keine deutliche, unverrückbare Grenze gibt.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
In der Kolonialpolitik

können wir von der kommenden ReichstagS-
session wohl die Erledigung schwebender Fragen erwarten, nachdem es dem neuen
Staatssekretär gelungen ist, die Gouverueursposten von Südwestafrika und Kamerun
in befriedigender Weise neu zu besetzen. Ehe wir auf diese Gouverneurswechsel
eingehen, müssen wir ein paar Worte über den neuen Staatssekretär voraus¬
schicken. Mit einiger Beflissenheit ist bei Dernburgs Abgang immer wieder ver¬
sichert worden daß der Wechsel in der Oberleitung der Kolonialverwaltung an
unsrer Kolonialpolitik nichts ändern werde. Das dürfte, wenn wir tue Dinge
rein mechanisch betrachten, zutreffen. Einen äußerlich erkennbaren „neuen Kurs'
werden wir nicht bekommen. Aber der Geist unsrer Kolonialpolitik durfte doch
ein anderer werden. Herr v. Lindequist huldigt in verschiedenen kolonialen Lebens¬
fragen andern Anschauungen als Herr Dernburg. Und eben wegen dieser
Anschauungen ist seine Wahl besonders freudig begrüßt worden. Es hieße die
Fähigkeiten des neuen Staatssekretärs heruntersetzen, wenn wir ihm zumuten
wollten, einfach den Nachläufer Dernburgs zu spielen. Wir wissen, daß er über
die Eingeborenenpolitik anders denkt als Dernburg. und daß ihm ausgesprochener¬
maßen die Besiedlung möglichst großer Gebiete unsrer Kolonien nut Deutschen
am Herzen liegt. Und während Dernburg ein entschieden autokratlscher Charakter
war und sich nur selten dreinreden ließ, liebt der neue Staatssekretär mehr die
freundschaftliche Fühlungnahme mit den in Frage kommenden Kreisen.

Diese seine Wesensart kommt auch in der Wahl der neuen Gouverneure für
Südwest und Kamerun zum Ausdruck. Gouverneur Seitz hat in Kamerun mit
den Ansiedlern in selten gutem Einvernehmen gelebt und die auch dort vorhandenen
Gegensätze geschickt auszugleichen verstanden. Man sieht ihn dort ungern scheiden.
Unter seiner Leitung hat in Kamerun die wirtschaftliche Entwickelung einen
bemerkenswerten Aufschwung genommen, der nicht zum wenigsten seiner Politik
des Entgegenkommens zuzuschreiben ist. Sein Nachfolger Dr. Gleim ist ein durchaus


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0511" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/316796"/>
          <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2203" prev="#ID_2202"> ich am nächsten Tage hinging, erfuhr ich, daß der Major mit seiner Tochter schon<lb/>
zeitig am Morgen abgereist war.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2204"> Ich weiß nicht, wie sie ihren ganz nüchtern und alltäglich denkenden Vater<lb/>
so vollständig auf ihre Seite ziehen konnte, daß er nicht einmal durch einen Brief<lb/>
wenigstens seinerseits eine Verständigung herbeizuführen suchte. Ich bin den beiden<lb/>
nie wieder im Leben begegnet und weiß nicht, was aus ihnen geworden ist. Ich<lb/>
weiß seit jenem Erlebnisse nur, daß es zwischen dem sogenannten Charakter und<lb/>
zwischen Überspanntheit keine deutliche, unverrückbare Grenze gibt.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Maßgebliches und Unmaßgebliches</head><lb/>
          <div n="2">
            <head> In der Kolonialpolitik </head>
            <p xml:id="ID_2205"> können wir von der kommenden ReichstagS-<lb/>
session wohl die Erledigung schwebender Fragen erwarten, nachdem es dem neuen<lb/>
Staatssekretär gelungen ist, die Gouverueursposten von Südwestafrika und Kamerun<lb/>
in befriedigender Weise neu zu besetzen. Ehe wir auf diese Gouverneurswechsel<lb/>
eingehen, müssen wir ein paar Worte über den neuen Staatssekretär voraus¬<lb/>
schicken. Mit einiger Beflissenheit ist bei Dernburgs Abgang immer wieder ver¬<lb/>
sichert worden daß der Wechsel in der Oberleitung der Kolonialverwaltung an<lb/>
unsrer Kolonialpolitik nichts ändern werde. Das dürfte, wenn wir tue Dinge<lb/>
rein mechanisch betrachten, zutreffen. Einen äußerlich erkennbaren &#x201E;neuen Kurs'<lb/>
werden wir nicht bekommen. Aber der Geist unsrer Kolonialpolitik durfte doch<lb/>
ein anderer werden. Herr v. Lindequist huldigt in verschiedenen kolonialen Lebens¬<lb/>
fragen andern Anschauungen als Herr Dernburg. Und eben wegen dieser<lb/>
Anschauungen ist seine Wahl besonders freudig begrüßt worden. Es hieße die<lb/>
Fähigkeiten des neuen Staatssekretärs heruntersetzen, wenn wir ihm zumuten<lb/>
wollten, einfach den Nachläufer Dernburgs zu spielen. Wir wissen, daß er über<lb/>
die Eingeborenenpolitik anders denkt als Dernburg. und daß ihm ausgesprochener¬<lb/>
maßen die Besiedlung möglichst großer Gebiete unsrer Kolonien nut Deutschen<lb/>
am Herzen liegt. Und während Dernburg ein entschieden autokratlscher Charakter<lb/>
war und sich nur selten dreinreden ließ, liebt der neue Staatssekretär mehr die<lb/>
freundschaftliche Fühlungnahme mit den in Frage kommenden Kreisen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2206" next="#ID_2207"> Diese seine Wesensart kommt auch in der Wahl der neuen Gouverneure für<lb/>
Südwest und Kamerun zum Ausdruck. Gouverneur Seitz hat in Kamerun mit<lb/>
den Ansiedlern in selten gutem Einvernehmen gelebt und die auch dort vorhandenen<lb/>
Gegensätze geschickt auszugleichen verstanden. Man sieht ihn dort ungern scheiden.<lb/>
Unter seiner Leitung hat in Kamerun die wirtschaftliche Entwickelung einen<lb/>
bemerkenswerten Aufschwung genommen, der nicht zum wenigsten seiner Politik<lb/>
des Entgegenkommens zuzuschreiben ist. Sein Nachfolger Dr. Gleim ist ein durchaus</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0511] Maßgebliches und Unmaßgebliches ich am nächsten Tage hinging, erfuhr ich, daß der Major mit seiner Tochter schon zeitig am Morgen abgereist war. Ich weiß nicht, wie sie ihren ganz nüchtern und alltäglich denkenden Vater so vollständig auf ihre Seite ziehen konnte, daß er nicht einmal durch einen Brief wenigstens seinerseits eine Verständigung herbeizuführen suchte. Ich bin den beiden nie wieder im Leben begegnet und weiß nicht, was aus ihnen geworden ist. Ich weiß seit jenem Erlebnisse nur, daß es zwischen dem sogenannten Charakter und zwischen Überspanntheit keine deutliche, unverrückbare Grenze gibt. Maßgebliches und Unmaßgebliches In der Kolonialpolitik können wir von der kommenden ReichstagS- session wohl die Erledigung schwebender Fragen erwarten, nachdem es dem neuen Staatssekretär gelungen ist, die Gouverueursposten von Südwestafrika und Kamerun in befriedigender Weise neu zu besetzen. Ehe wir auf diese Gouverneurswechsel eingehen, müssen wir ein paar Worte über den neuen Staatssekretär voraus¬ schicken. Mit einiger Beflissenheit ist bei Dernburgs Abgang immer wieder ver¬ sichert worden daß der Wechsel in der Oberleitung der Kolonialverwaltung an unsrer Kolonialpolitik nichts ändern werde. Das dürfte, wenn wir tue Dinge rein mechanisch betrachten, zutreffen. Einen äußerlich erkennbaren „neuen Kurs' werden wir nicht bekommen. Aber der Geist unsrer Kolonialpolitik durfte doch ein anderer werden. Herr v. Lindequist huldigt in verschiedenen kolonialen Lebens¬ fragen andern Anschauungen als Herr Dernburg. Und eben wegen dieser Anschauungen ist seine Wahl besonders freudig begrüßt worden. Es hieße die Fähigkeiten des neuen Staatssekretärs heruntersetzen, wenn wir ihm zumuten wollten, einfach den Nachläufer Dernburgs zu spielen. Wir wissen, daß er über die Eingeborenenpolitik anders denkt als Dernburg. und daß ihm ausgesprochener¬ maßen die Besiedlung möglichst großer Gebiete unsrer Kolonien nut Deutschen am Herzen liegt. Und während Dernburg ein entschieden autokratlscher Charakter war und sich nur selten dreinreden ließ, liebt der neue Staatssekretär mehr die freundschaftliche Fühlungnahme mit den in Frage kommenden Kreisen. Diese seine Wesensart kommt auch in der Wahl der neuen Gouverneure für Südwest und Kamerun zum Ausdruck. Gouverneur Seitz hat in Kamerun mit den Ansiedlern in selten gutem Einvernehmen gelebt und die auch dort vorhandenen Gegensätze geschickt auszugleichen verstanden. Man sieht ihn dort ungern scheiden. Unter seiner Leitung hat in Kamerun die wirtschaftliche Entwickelung einen bemerkenswerten Aufschwung genommen, der nicht zum wenigsten seiner Politik des Entgegenkommens zuzuschreiben ist. Sein Nachfolger Dr. Gleim ist ein durchaus

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/511
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/511>, abgerufen am 06.05.2024.