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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Zum hundertsten Geburtstag Alfred de Müssets
^. Dezember Wilhelm Haax von

WD
MO
MMM
-LMHI rankreich schickt sich an, die hundertste Wiederkehr des Tages, an
dem Alfred de Musset ihm geschenkt wurde, festlich zu begehen
und seinem Andenken Huldigungen darzubringen, die, wie die
Blätter melden, in der Errichtung eines zweiten Denkmals in
Paris gipfeln werden. In Deutschland findet diese Feier
sympathischen Widerhall, zählt doch der Dichter in unserem Vaterlande einen
großen, sich stets mehrenden Kreis von Verehrern.

Es ist eine eigene Sache um den Dichterruhm; auch er ist einigermaßen
der Mode unterworfen. Im Leben Alfred de Müssets gab es Zeiten, wo er
berühmt, und andere, wo er vergessen war. Heinrich Heine hat sich einmal
tadelnd darüber ausgesprochen, daß den Franzosen ihr größter Lyriker so wenig
bekannt sei wie irgendein chinesischer Dichter. Das war im Jahre 1835, als
Musset schon mehrere seiner schönsten Dichtungen veröffentlicht hatte. Und
heute baut man ihm Altäre! Er, der sich selbst "un erkant an 8iöLle" --
d. h. des vorigen Jahrhunderts -- nannte, lebt auch dem zwanzigsten Jahr¬
hundert, ja er steht der heutigen Generation näher als die anderen großen
Lyriker, die in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts am Himmel Frank¬
reichs glänzten. Lamartine, für den man schwärmte, ist einem großen Teil
der heutigen unruhevollen Menschheit zu zart, zu redselig, vielleicht zu fromm;
Victor Hugo, der vergötterte, ist mit seinen Deklamationen, seinem Pathos,
seinen Antithesen langweilig geworden, selbst Büranger, einst der Liebling der
Nation, gilt vielen für abgedroschen und banal. Musset aber ist eine Natur,
die unserer Zeit entspricht; da ist Leben und Bewegung, da sind innere Gegen¬
sätze, da ist ein Mensch, der kämpft und liebt und leidet, da ist rückhaltlose
Wahrheit: das sind Züge, die sich im Bilde unserer Zeit widerspiegeln.

Als Jüngling, kaum der Schule entwachsen, wurde Musset schon in das
Cönacle eingeführt, jenen Kreis von Dichtern und Künstlern, der sich damals
in den Salons von Robler, Emile Deschamps und A. Devözia um die Häupter
der neuen romantischen Schule, Victor Hugo, Alfred de Vigny usw. versammelte.




Zum hundertsten Geburtstag Alfred de Müssets
^. Dezember Wilhelm Haax von

WD
MO
MMM
-LMHI rankreich schickt sich an, die hundertste Wiederkehr des Tages, an
dem Alfred de Musset ihm geschenkt wurde, festlich zu begehen
und seinem Andenken Huldigungen darzubringen, die, wie die
Blätter melden, in der Errichtung eines zweiten Denkmals in
Paris gipfeln werden. In Deutschland findet diese Feier
sympathischen Widerhall, zählt doch der Dichter in unserem Vaterlande einen
großen, sich stets mehrenden Kreis von Verehrern.

Es ist eine eigene Sache um den Dichterruhm; auch er ist einigermaßen
der Mode unterworfen. Im Leben Alfred de Müssets gab es Zeiten, wo er
berühmt, und andere, wo er vergessen war. Heinrich Heine hat sich einmal
tadelnd darüber ausgesprochen, daß den Franzosen ihr größter Lyriker so wenig
bekannt sei wie irgendein chinesischer Dichter. Das war im Jahre 1835, als
Musset schon mehrere seiner schönsten Dichtungen veröffentlicht hatte. Und
heute baut man ihm Altäre! Er, der sich selbst „un erkant an 8iöLle" —
d. h. des vorigen Jahrhunderts — nannte, lebt auch dem zwanzigsten Jahr¬
hundert, ja er steht der heutigen Generation näher als die anderen großen
Lyriker, die in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts am Himmel Frank¬
reichs glänzten. Lamartine, für den man schwärmte, ist einem großen Teil
der heutigen unruhevollen Menschheit zu zart, zu redselig, vielleicht zu fromm;
Victor Hugo, der vergötterte, ist mit seinen Deklamationen, seinem Pathos,
seinen Antithesen langweilig geworden, selbst Büranger, einst der Liebling der
Nation, gilt vielen für abgedroschen und banal. Musset aber ist eine Natur,
die unserer Zeit entspricht; da ist Leben und Bewegung, da sind innere Gegen¬
sätze, da ist ein Mensch, der kämpft und liebt und leidet, da ist rückhaltlose
Wahrheit: das sind Züge, die sich im Bilde unserer Zeit widerspiegeln.

Als Jüngling, kaum der Schule entwachsen, wurde Musset schon in das
Cönacle eingeführt, jenen Kreis von Dichtern und Künstlern, der sich damals
in den Salons von Robler, Emile Deschamps und A. Devözia um die Häupter
der neuen romantischen Schule, Victor Hugo, Alfred de Vigny usw. versammelte.


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[0466] [Abbildung] Zum hundertsten Geburtstag Alfred de Müssets ^. Dezember Wilhelm Haax von WD MO MMM -LMHI rankreich schickt sich an, die hundertste Wiederkehr des Tages, an dem Alfred de Musset ihm geschenkt wurde, festlich zu begehen und seinem Andenken Huldigungen darzubringen, die, wie die Blätter melden, in der Errichtung eines zweiten Denkmals in Paris gipfeln werden. In Deutschland findet diese Feier sympathischen Widerhall, zählt doch der Dichter in unserem Vaterlande einen großen, sich stets mehrenden Kreis von Verehrern. Es ist eine eigene Sache um den Dichterruhm; auch er ist einigermaßen der Mode unterworfen. Im Leben Alfred de Müssets gab es Zeiten, wo er berühmt, und andere, wo er vergessen war. Heinrich Heine hat sich einmal tadelnd darüber ausgesprochen, daß den Franzosen ihr größter Lyriker so wenig bekannt sei wie irgendein chinesischer Dichter. Das war im Jahre 1835, als Musset schon mehrere seiner schönsten Dichtungen veröffentlicht hatte. Und heute baut man ihm Altäre! Er, der sich selbst „un erkant an 8iöLle" — d. h. des vorigen Jahrhunderts — nannte, lebt auch dem zwanzigsten Jahr¬ hundert, ja er steht der heutigen Generation näher als die anderen großen Lyriker, die in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts am Himmel Frank¬ reichs glänzten. Lamartine, für den man schwärmte, ist einem großen Teil der heutigen unruhevollen Menschheit zu zart, zu redselig, vielleicht zu fromm; Victor Hugo, der vergötterte, ist mit seinen Deklamationen, seinem Pathos, seinen Antithesen langweilig geworden, selbst Büranger, einst der Liebling der Nation, gilt vielen für abgedroschen und banal. Musset aber ist eine Natur, die unserer Zeit entspricht; da ist Leben und Bewegung, da sind innere Gegen¬ sätze, da ist ein Mensch, der kämpft und liebt und leidet, da ist rückhaltlose Wahrheit: das sind Züge, die sich im Bilde unserer Zeit widerspiegeln. Als Jüngling, kaum der Schule entwachsen, wurde Musset schon in das Cönacle eingeführt, jenen Kreis von Dichtern und Künstlern, der sich damals in den Salons von Robler, Emile Deschamps und A. Devözia um die Häupter der neuen romantischen Schule, Victor Hugo, Alfred de Vigny usw. versammelte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/466>, abgerufen am 29.04.2024.