Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Nachteile der sozialen Gesetze

er sagt: "Alles ist leer von Gott"? Ebenso lehnt sich auch unsere innerste
Empfindung aus gegen die dem Verstände so klare deterministische Lehre von
der Unfreiheit des Willens, und immer von neuem wird das Denken angeregt,
zu untersuchen, ob nicht ein Fehler in der bis jetzt gültigen Beweisführung zu
finden ist. Lichtenberg sagt mit vollem Recht: "Der Widerspruch, den wir
zwischen dem klar ausgedrückten Satz und unseren: undeutlichen Gefühl bemerken,
macht uns glauben, wir haben den rechten noch nicht gefunden".

Das Gefühl verhält sich aber auch ergänzend, die menschliche Seele da
erfüllend und beseligend, wo Begriffe und Worte ihr das nicht bieten können,
wonach sie mit nie zu stillender Sehnsucht verlangt. Beweist uns auch kein Philosoph
die Existenz Gottes, kann auch kein Begriff ihn erfassen, kein Wort sein Wesen
ausdrücken, so leben und wandeln und wirken wir in dem mächtig uns durch-
wogeuoen Gefühl der Gottesnähe, und vielleicht sind die seligsten Stunden des
Menschenlebens die der gotterfüllten Einsamkeit, und das innige Schweigen der
Seele und ihre unaussprechlichen Empfindungen ersetzen uus überreichlich die
aufgegebenen philosophischen Begriffe.

Freilich, eine dogmatische Philosophie läßt sich weder aus jenem Protest,
noch aus dieser friedensreichen Stimmung der Seele gewinnen. Bei dem Maß
von Einsicht, das bis jetzt durch philosophische Forschung gewonnen ist, führt
solch ein Versuch zu scholastischen Philosophemen, also in ein dämmerndes Dunkel,
in dem alle deutlichen Umrisse verschwinden und Schatten und Schemen sür
Realitäten angesehen werden.

Es ist aber des philosophischen Forschers würdiger, da, wo nichts klar zu
erkennen ist, die Schranken der Erkenntnis, die cioctia iZnorantia einzugestehen,
zu bekennen, daß in vielen wichtigen metaphysischen Fragen noch tiefe Nacht
unser Denken und Forschen umhüllt; haben wir doch aus einem anderen Gebiet
des Geistes her die tröstliche Gewißheit gewonnen: "Es hat die Nacht einen
Himmel auch und Sterne".




Nachteile der sozialen Gesetze
v Dr. F. Ritter on

or einiger Zeit ist die neue Reichsversicherungsordnung von
der Reichstagskommisston erstmalig durchberaten, über ihre bis¬
herige Tätigkeit ist auch manches Ungünstige laut geworden. Unter
anderem hat der Abschnitt, welcher das Verhältnis der Kranken¬
kassen zu den Ärzten regeln sollte, sich als völlig unhaltbar
erwiesen, und zwar sowohl in der Form des Regierungsentwurfs, als nach
den Beschlüssen der Kommission. Daher mußte endlich der Staatssekretär Delbrück


Grenzboten IV 1910 77
Nachteile der sozialen Gesetze

er sagt: „Alles ist leer von Gott"? Ebenso lehnt sich auch unsere innerste
Empfindung aus gegen die dem Verstände so klare deterministische Lehre von
der Unfreiheit des Willens, und immer von neuem wird das Denken angeregt,
zu untersuchen, ob nicht ein Fehler in der bis jetzt gültigen Beweisführung zu
finden ist. Lichtenberg sagt mit vollem Recht: „Der Widerspruch, den wir
zwischen dem klar ausgedrückten Satz und unseren: undeutlichen Gefühl bemerken,
macht uns glauben, wir haben den rechten noch nicht gefunden".

Das Gefühl verhält sich aber auch ergänzend, die menschliche Seele da
erfüllend und beseligend, wo Begriffe und Worte ihr das nicht bieten können,
wonach sie mit nie zu stillender Sehnsucht verlangt. Beweist uns auch kein Philosoph
die Existenz Gottes, kann auch kein Begriff ihn erfassen, kein Wort sein Wesen
ausdrücken, so leben und wandeln und wirken wir in dem mächtig uns durch-
wogeuoen Gefühl der Gottesnähe, und vielleicht sind die seligsten Stunden des
Menschenlebens die der gotterfüllten Einsamkeit, und das innige Schweigen der
Seele und ihre unaussprechlichen Empfindungen ersetzen uus überreichlich die
aufgegebenen philosophischen Begriffe.

Freilich, eine dogmatische Philosophie läßt sich weder aus jenem Protest,
noch aus dieser friedensreichen Stimmung der Seele gewinnen. Bei dem Maß
von Einsicht, das bis jetzt durch philosophische Forschung gewonnen ist, führt
solch ein Versuch zu scholastischen Philosophemen, also in ein dämmerndes Dunkel,
in dem alle deutlichen Umrisse verschwinden und Schatten und Schemen sür
Realitäten angesehen werden.

Es ist aber des philosophischen Forschers würdiger, da, wo nichts klar zu
erkennen ist, die Schranken der Erkenntnis, die cioctia iZnorantia einzugestehen,
zu bekennen, daß in vielen wichtigen metaphysischen Fragen noch tiefe Nacht
unser Denken und Forschen umhüllt; haben wir doch aus einem anderen Gebiet
des Geistes her die tröstliche Gewißheit gewonnen: „Es hat die Nacht einen
Himmel auch und Sterne".




Nachteile der sozialen Gesetze
v Dr. F. Ritter on

or einiger Zeit ist die neue Reichsversicherungsordnung von
der Reichstagskommisston erstmalig durchberaten, über ihre bis¬
herige Tätigkeit ist auch manches Ungünstige laut geworden. Unter
anderem hat der Abschnitt, welcher das Verhältnis der Kranken¬
kassen zu den Ärzten regeln sollte, sich als völlig unhaltbar
erwiesen, und zwar sowohl in der Form des Regierungsentwurfs, als nach
den Beschlüssen der Kommission. Daher mußte endlich der Staatssekretär Delbrück


Grenzboten IV 1910 77
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0621" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/317572"/>
          <fw type="header" place="top"> Nachteile der sozialen Gesetze</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2979" prev="#ID_2978"> er sagt: &#x201E;Alles ist leer von Gott"? Ebenso lehnt sich auch unsere innerste<lb/>
Empfindung aus gegen die dem Verstände so klare deterministische Lehre von<lb/>
der Unfreiheit des Willens, und immer von neuem wird das Denken angeregt,<lb/>
zu untersuchen, ob nicht ein Fehler in der bis jetzt gültigen Beweisführung zu<lb/>
finden ist. Lichtenberg sagt mit vollem Recht: &#x201E;Der Widerspruch, den wir<lb/>
zwischen dem klar ausgedrückten Satz und unseren: undeutlichen Gefühl bemerken,<lb/>
macht uns glauben, wir haben den rechten noch nicht gefunden".</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2980"> Das Gefühl verhält sich aber auch ergänzend, die menschliche Seele da<lb/>
erfüllend und beseligend, wo Begriffe und Worte ihr das nicht bieten können,<lb/>
wonach sie mit nie zu stillender Sehnsucht verlangt. Beweist uns auch kein Philosoph<lb/>
die Existenz Gottes, kann auch kein Begriff ihn erfassen, kein Wort sein Wesen<lb/>
ausdrücken, so leben und wandeln und wirken wir in dem mächtig uns durch-<lb/>
wogeuoen Gefühl der Gottesnähe, und vielleicht sind die seligsten Stunden des<lb/>
Menschenlebens die der gotterfüllten Einsamkeit, und das innige Schweigen der<lb/>
Seele und ihre unaussprechlichen Empfindungen ersetzen uus überreichlich die<lb/>
aufgegebenen philosophischen Begriffe.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2981"> Freilich, eine dogmatische Philosophie läßt sich weder aus jenem Protest,<lb/>
noch aus dieser friedensreichen Stimmung der Seele gewinnen. Bei dem Maß<lb/>
von Einsicht, das bis jetzt durch philosophische Forschung gewonnen ist, führt<lb/>
solch ein Versuch zu scholastischen Philosophemen, also in ein dämmerndes Dunkel,<lb/>
in dem alle deutlichen Umrisse verschwinden und Schatten und Schemen sür<lb/>
Realitäten angesehen werden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2982"> Es ist aber des philosophischen Forschers würdiger, da, wo nichts klar zu<lb/>
erkennen ist, die Schranken der Erkenntnis, die cioctia iZnorantia einzugestehen,<lb/>
zu bekennen, daß in vielen wichtigen metaphysischen Fragen noch tiefe Nacht<lb/>
unser Denken und Forschen umhüllt; haben wir doch aus einem anderen Gebiet<lb/>
des Geistes her die tröstliche Gewißheit gewonnen: &#x201E;Es hat die Nacht einen<lb/>
Himmel auch und Sterne".</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Nachteile der sozialen Gesetze<lb/>
v<note type="byline"> Dr. F. Ritter</note> on </head><lb/>
          <p xml:id="ID_2983" next="#ID_2984"> or einiger Zeit ist die neue Reichsversicherungsordnung von<lb/>
der Reichstagskommisston erstmalig durchberaten, über ihre bis¬<lb/>
herige Tätigkeit ist auch manches Ungünstige laut geworden. Unter<lb/>
anderem hat der Abschnitt, welcher das Verhältnis der Kranken¬<lb/>
kassen zu den Ärzten regeln sollte, sich als völlig unhaltbar<lb/>
erwiesen, und zwar sowohl in der Form des Regierungsentwurfs, als nach<lb/>
den Beschlüssen der Kommission. Daher mußte endlich der Staatssekretär Delbrück</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV 1910 77</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0621] Nachteile der sozialen Gesetze er sagt: „Alles ist leer von Gott"? Ebenso lehnt sich auch unsere innerste Empfindung aus gegen die dem Verstände so klare deterministische Lehre von der Unfreiheit des Willens, und immer von neuem wird das Denken angeregt, zu untersuchen, ob nicht ein Fehler in der bis jetzt gültigen Beweisführung zu finden ist. Lichtenberg sagt mit vollem Recht: „Der Widerspruch, den wir zwischen dem klar ausgedrückten Satz und unseren: undeutlichen Gefühl bemerken, macht uns glauben, wir haben den rechten noch nicht gefunden". Das Gefühl verhält sich aber auch ergänzend, die menschliche Seele da erfüllend und beseligend, wo Begriffe und Worte ihr das nicht bieten können, wonach sie mit nie zu stillender Sehnsucht verlangt. Beweist uns auch kein Philosoph die Existenz Gottes, kann auch kein Begriff ihn erfassen, kein Wort sein Wesen ausdrücken, so leben und wandeln und wirken wir in dem mächtig uns durch- wogeuoen Gefühl der Gottesnähe, und vielleicht sind die seligsten Stunden des Menschenlebens die der gotterfüllten Einsamkeit, und das innige Schweigen der Seele und ihre unaussprechlichen Empfindungen ersetzen uus überreichlich die aufgegebenen philosophischen Begriffe. Freilich, eine dogmatische Philosophie läßt sich weder aus jenem Protest, noch aus dieser friedensreichen Stimmung der Seele gewinnen. Bei dem Maß von Einsicht, das bis jetzt durch philosophische Forschung gewonnen ist, führt solch ein Versuch zu scholastischen Philosophemen, also in ein dämmerndes Dunkel, in dem alle deutlichen Umrisse verschwinden und Schatten und Schemen sür Realitäten angesehen werden. Es ist aber des philosophischen Forschers würdiger, da, wo nichts klar zu erkennen ist, die Schranken der Erkenntnis, die cioctia iZnorantia einzugestehen, zu bekennen, daß in vielen wichtigen metaphysischen Fragen noch tiefe Nacht unser Denken und Forschen umhüllt; haben wir doch aus einem anderen Gebiet des Geistes her die tröstliche Gewißheit gewonnen: „Es hat die Nacht einen Himmel auch und Sterne". Nachteile der sozialen Gesetze v Dr. F. Ritter on or einiger Zeit ist die neue Reichsversicherungsordnung von der Reichstagskommisston erstmalig durchberaten, über ihre bis¬ herige Tätigkeit ist auch manches Ungünstige laut geworden. Unter anderem hat der Abschnitt, welcher das Verhältnis der Kranken¬ kassen zu den Ärzten regeln sollte, sich als völlig unhaltbar erwiesen, und zwar sowohl in der Form des Regierungsentwurfs, als nach den Beschlüssen der Kommission. Daher mußte endlich der Staatssekretär Delbrück Grenzboten IV 1910 77

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/621
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/621>, abgerufen am 29.04.2024.