Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Reichsspicgel

Reichsspiegel
Innere Politik

Des Kronprinzen Heimkehr -- Mißliche Zustünde -- Schulerselbstmorde -- Unkunde
Statistik -- Gefahren des Idealismus -- Notwendigkeit weiterer Erhebungen über
die Ursachen des Selbstmordes bei Schülern

Am Dienstag, den 11. d. Ms., ist von Wien kommend das Kron-
priuzenpaar nach fünfmonatiger Abwesenheit von der Heimat wieder in
Potsdam eingetroffen. Der künftige Träger der deutschen Kaiserkrone sieht ebenso
wie seine Gemahlin frisch und von einer südlichen Sonne gebräunt ans. Seine
hagere Gestalt erscheint straff und sehnig, so daß man getrost glauben darf, die
Besorgnisse, die früher hier und da wegen der Gesundheit des Kronprinzen
aufgetaucht sind, hatten keinerlei Begründung. Wenn auch die Reise nicht in
dem ursprünglich in Aussicht genommenen Umfange durchgeführt werden konnte,
hat der Kronprinz doch mancherlei gesehen und gehört, was ihm in Berlin wie
in Deutschland überhaupt bei den einmal herrschenden, auf historischer Über¬
lieferung beruhenden Verhältnissen nur selten oder gar nicht begegnet. Der
Umgang mit freien, zielbewußt an ihrem Platze wirkenden Menschen, die absichtlich
oder zufällig mit ihm in Berührung gekommen sind, mag dem Kronprinzen die
Augen über mancherlei Engherzigkeiten bei uns weiter geöffnet haben, als das
Studium eines Wagens voll Büchern wohl gekonnt hätte.

Die Heimat trifft ihr künftiger Monarch nicht in der hoffnungsvollen
Stimmung an, die sonst das charakteristische Merkmal des Osterfestes genannt
werden darf. Das "Christ ist erstanden!" scheint auf unsere Zeit uicht mehr
zu passen. Auch die Friedfertigsten unter uns rüsten zum Kampf, weil scheinbar
eine Aussöhnung der inneren Gegensätze im Volk nicht möglich ist ohne Sieg
und Niederlage. Soll man's bedauern? Im Kampf, auch im politischen, werden
so viel ethische Werte mobilisiert, daß das bevorstehende Ringen vielleicht ganz
heilsam auf die vielfach beobachtete Stagnation wirken könnte.

Der Semesterschluß der höheren Lehranstalten war wieder von drei Schüler¬
selbstmorden begleitet. Mit Recht haben die neuerlichen Fälle die öffentliche
Meinung erregt und zu einer lebhaften Erörterung in der Presse Veranlassung
gegeben. Im Gegensatz zu früher beobachteter Gepflogenheit haben die Zeitungen
nicht ohne weiteres die Schule für die traurigen Fälle verantwortlich gemacht.
Die Erregung findet vielmehr in sachlichen Aussprachen ihren Widerhall, die
darauf hinzielen, die wahren Gründe für die Erscheinung festzustellen. In
dankenswerter Schnelligkeit ist auch das preußische Kultusministerium mit An¬
gaben hervorgetreten, die geeignet erscheinen, wenigstens in einer Hinsicht
Beruhigung zu verbreiten. So darf vor allen Dingen nicht von einer Zunahme


Reichsspicgel

Reichsspiegel
Innere Politik

Des Kronprinzen Heimkehr — Mißliche Zustünde — Schulerselbstmorde — Unkunde
Statistik — Gefahren des Idealismus — Notwendigkeit weiterer Erhebungen über
die Ursachen des Selbstmordes bei Schülern

Am Dienstag, den 11. d. Ms., ist von Wien kommend das Kron-
priuzenpaar nach fünfmonatiger Abwesenheit von der Heimat wieder in
Potsdam eingetroffen. Der künftige Träger der deutschen Kaiserkrone sieht ebenso
wie seine Gemahlin frisch und von einer südlichen Sonne gebräunt ans. Seine
hagere Gestalt erscheint straff und sehnig, so daß man getrost glauben darf, die
Besorgnisse, die früher hier und da wegen der Gesundheit des Kronprinzen
aufgetaucht sind, hatten keinerlei Begründung. Wenn auch die Reise nicht in
dem ursprünglich in Aussicht genommenen Umfange durchgeführt werden konnte,
hat der Kronprinz doch mancherlei gesehen und gehört, was ihm in Berlin wie
in Deutschland überhaupt bei den einmal herrschenden, auf historischer Über¬
lieferung beruhenden Verhältnissen nur selten oder gar nicht begegnet. Der
Umgang mit freien, zielbewußt an ihrem Platze wirkenden Menschen, die absichtlich
oder zufällig mit ihm in Berührung gekommen sind, mag dem Kronprinzen die
Augen über mancherlei Engherzigkeiten bei uns weiter geöffnet haben, als das
Studium eines Wagens voll Büchern wohl gekonnt hätte.

Die Heimat trifft ihr künftiger Monarch nicht in der hoffnungsvollen
Stimmung an, die sonst das charakteristische Merkmal des Osterfestes genannt
werden darf. Das „Christ ist erstanden!" scheint auf unsere Zeit uicht mehr
zu passen. Auch die Friedfertigsten unter uns rüsten zum Kampf, weil scheinbar
eine Aussöhnung der inneren Gegensätze im Volk nicht möglich ist ohne Sieg
und Niederlage. Soll man's bedauern? Im Kampf, auch im politischen, werden
so viel ethische Werte mobilisiert, daß das bevorstehende Ringen vielleicht ganz
heilsam auf die vielfach beobachtete Stagnation wirken könnte.

Der Semesterschluß der höheren Lehranstalten war wieder von drei Schüler¬
selbstmorden begleitet. Mit Recht haben die neuerlichen Fälle die öffentliche
Meinung erregt und zu einer lebhaften Erörterung in der Presse Veranlassung
gegeben. Im Gegensatz zu früher beobachteter Gepflogenheit haben die Zeitungen
nicht ohne weiteres die Schule für die traurigen Fälle verantwortlich gemacht.
Die Erregung findet vielmehr in sachlichen Aussprachen ihren Widerhall, die
darauf hinzielen, die wahren Gründe für die Erscheinung festzustellen. In
dankenswerter Schnelligkeit ist auch das preußische Kultusministerium mit An¬
gaben hervorgetreten, die geeignet erscheinen, wenigstens in einer Hinsicht
Beruhigung zu verbreiten. So darf vor allen Dingen nicht von einer Zunahme


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <div n="3">
              <pb facs="#f0144" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/318427"/>
              <fw type="header" place="top"> Reichsspicgel</fw><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Reichsspiegel<lb/></head><lb/>
          <div n="2">
            <head> Innere Politik</head><lb/>
            <note type="argument"> Des Kronprinzen Heimkehr &#x2014; Mißliche Zustünde &#x2014; Schulerselbstmorde &#x2014; Unkunde<lb/>
Statistik &#x2014; Gefahren des Idealismus &#x2014; Notwendigkeit weiterer Erhebungen über<lb/>
die Ursachen des Selbstmordes bei Schülern</note><lb/>
            <p xml:id="ID_655"> Am Dienstag, den 11. d. Ms., ist von Wien kommend das Kron-<lb/>
priuzenpaar nach fünfmonatiger Abwesenheit von der Heimat wieder in<lb/>
Potsdam eingetroffen. Der künftige Träger der deutschen Kaiserkrone sieht ebenso<lb/>
wie seine Gemahlin frisch und von einer südlichen Sonne gebräunt ans. Seine<lb/>
hagere Gestalt erscheint straff und sehnig, so daß man getrost glauben darf, die<lb/>
Besorgnisse, die früher hier und da wegen der Gesundheit des Kronprinzen<lb/>
aufgetaucht sind, hatten keinerlei Begründung. Wenn auch die Reise nicht in<lb/>
dem ursprünglich in Aussicht genommenen Umfange durchgeführt werden konnte,<lb/>
hat der Kronprinz doch mancherlei gesehen und gehört, was ihm in Berlin wie<lb/>
in Deutschland überhaupt bei den einmal herrschenden, auf historischer Über¬<lb/>
lieferung beruhenden Verhältnissen nur selten oder gar nicht begegnet. Der<lb/>
Umgang mit freien, zielbewußt an ihrem Platze wirkenden Menschen, die absichtlich<lb/>
oder zufällig mit ihm in Berührung gekommen sind, mag dem Kronprinzen die<lb/>
Augen über mancherlei Engherzigkeiten bei uns weiter geöffnet haben, als das<lb/>
Studium eines Wagens voll Büchern wohl gekonnt hätte.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_656"> Die Heimat trifft ihr künftiger Monarch nicht in der hoffnungsvollen<lb/>
Stimmung an, die sonst das charakteristische Merkmal des Osterfestes genannt<lb/>
werden darf. Das &#x201E;Christ ist erstanden!" scheint auf unsere Zeit uicht mehr<lb/>
zu passen. Auch die Friedfertigsten unter uns rüsten zum Kampf, weil scheinbar<lb/>
eine Aussöhnung der inneren Gegensätze im Volk nicht möglich ist ohne Sieg<lb/>
und Niederlage. Soll man's bedauern? Im Kampf, auch im politischen, werden<lb/>
so viel ethische Werte mobilisiert, daß das bevorstehende Ringen vielleicht ganz<lb/>
heilsam auf die vielfach beobachtete Stagnation wirken könnte.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_657" next="#ID_658"> Der Semesterschluß der höheren Lehranstalten war wieder von drei Schüler¬<lb/>
selbstmorden begleitet. Mit Recht haben die neuerlichen Fälle die öffentliche<lb/>
Meinung erregt und zu einer lebhaften Erörterung in der Presse Veranlassung<lb/>
gegeben. Im Gegensatz zu früher beobachteter Gepflogenheit haben die Zeitungen<lb/>
nicht ohne weiteres die Schule für die traurigen Fälle verantwortlich gemacht.<lb/>
Die Erregung findet vielmehr in sachlichen Aussprachen ihren Widerhall, die<lb/>
darauf hinzielen, die wahren Gründe für die Erscheinung festzustellen. In<lb/>
dankenswerter Schnelligkeit ist auch das preußische Kultusministerium mit An¬<lb/>
gaben hervorgetreten, die geeignet erscheinen, wenigstens in einer Hinsicht<lb/>
Beruhigung zu verbreiten. So darf vor allen Dingen nicht von einer Zunahme</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0144] Reichsspicgel Reichsspiegel Innere Politik Des Kronprinzen Heimkehr — Mißliche Zustünde — Schulerselbstmorde — Unkunde Statistik — Gefahren des Idealismus — Notwendigkeit weiterer Erhebungen über die Ursachen des Selbstmordes bei Schülern Am Dienstag, den 11. d. Ms., ist von Wien kommend das Kron- priuzenpaar nach fünfmonatiger Abwesenheit von der Heimat wieder in Potsdam eingetroffen. Der künftige Träger der deutschen Kaiserkrone sieht ebenso wie seine Gemahlin frisch und von einer südlichen Sonne gebräunt ans. Seine hagere Gestalt erscheint straff und sehnig, so daß man getrost glauben darf, die Besorgnisse, die früher hier und da wegen der Gesundheit des Kronprinzen aufgetaucht sind, hatten keinerlei Begründung. Wenn auch die Reise nicht in dem ursprünglich in Aussicht genommenen Umfange durchgeführt werden konnte, hat der Kronprinz doch mancherlei gesehen und gehört, was ihm in Berlin wie in Deutschland überhaupt bei den einmal herrschenden, auf historischer Über¬ lieferung beruhenden Verhältnissen nur selten oder gar nicht begegnet. Der Umgang mit freien, zielbewußt an ihrem Platze wirkenden Menschen, die absichtlich oder zufällig mit ihm in Berührung gekommen sind, mag dem Kronprinzen die Augen über mancherlei Engherzigkeiten bei uns weiter geöffnet haben, als das Studium eines Wagens voll Büchern wohl gekonnt hätte. Die Heimat trifft ihr künftiger Monarch nicht in der hoffnungsvollen Stimmung an, die sonst das charakteristische Merkmal des Osterfestes genannt werden darf. Das „Christ ist erstanden!" scheint auf unsere Zeit uicht mehr zu passen. Auch die Friedfertigsten unter uns rüsten zum Kampf, weil scheinbar eine Aussöhnung der inneren Gegensätze im Volk nicht möglich ist ohne Sieg und Niederlage. Soll man's bedauern? Im Kampf, auch im politischen, werden so viel ethische Werte mobilisiert, daß das bevorstehende Ringen vielleicht ganz heilsam auf die vielfach beobachtete Stagnation wirken könnte. Der Semesterschluß der höheren Lehranstalten war wieder von drei Schüler¬ selbstmorden begleitet. Mit Recht haben die neuerlichen Fälle die öffentliche Meinung erregt und zu einer lebhaften Erörterung in der Presse Veranlassung gegeben. Im Gegensatz zu früher beobachteter Gepflogenheit haben die Zeitungen nicht ohne weiteres die Schule für die traurigen Fälle verantwortlich gemacht. Die Erregung findet vielmehr in sachlichen Aussprachen ihren Widerhall, die darauf hinzielen, die wahren Gründe für die Erscheinung festzustellen. In dankenswerter Schnelligkeit ist auch das preußische Kultusministerium mit An¬ gaben hervorgetreten, die geeignet erscheinen, wenigstens in einer Hinsicht Beruhigung zu verbreiten. So darf vor allen Dingen nicht von einer Zunahme

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/144
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/144>, abgerufen am 18.05.2024.