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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Grillxarzers Gsterreichertum
von Victor U-lenipercr

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I
i
i in Erkrankter vertraut sich ungern dem fremden, lieber dein
Hausarzt an, der seine Natur seit langem kennt. Aber wendet
sich die Krankheit zum Bedrohlichen, so zieht der Hausarzt gern
einen fremden Fachgenosim zu Rat, der kühler, unbefangener,
voraussetzungsloser und so auch wohl klarer sehen mag. Vor-
und Nachteil der Nähe und Ferne für alles Betrachten ergeben sich hieraus.
Der Nahe steht das Einzelne besser, der Ferne das Ganze, und allzu nah und
allzu sern bewirkt gleiches Verschwimmen des Gegenstandes. Ein Teilgebiet
geistigen Betrachtens, auf dem diese Gefahren besonders häufig wirksam werden,
ist das der Literaturgeschichte. Landsmann und Ausländer treten den: Dichter
oft genug mit gleicher Ungerechtigkeit entgegen. So war es ein sehr glücklicher
Gedanke, daß sich ein Ferner und ein Näher, der Franzose August Ehrhard
und der Österreicher Moritz Necker, zu einer Grillparzer-Biographie verbanden,
an der der französische Gelehrte wohl den Hauptanteil, der Wiener Autor aber
keineswegs nur den des Übersetzers hat. (Verlag der Beetschen Verlagsbuch-'
Handlung in München. 2. Auflage.) Das schöne, sehr schlicht geschriebene Buch
stützt sich sorglich auf eine Unzahl von Vorarbeiten. Grillparzer, den man 1838
beinahe skandalierend ablehnte, den man noch viele Jahre später in Deutschland
wenig kannte, in Österreich nicht übermäßig respektierte, ist längst unbestrittener
Klassiker, es gibt eine Grillparzer- wie eine Goethe-Philologie, immer genauere
wissenschaftliche und volkstümliche Ausgaben seiner Werke häufen sich, und die
österreichischen Literaturforscher August Sauer und Karl Glossu erscheinen wie
die Feldherren eines Heeres von Grillparzerdienern. Eine bessere Ein¬
führung nun in diese ganze sich immer reicher entfaltende Welt als das
Ehrhard-Neckersche Buch ist kaum denkbar. Jedes einzelne Werk des Dichters
wird betrachtet, jeder seiner Gedankengänge verfolgt, Kernpunkte findet man in
Grillparzers eigenen Worten herausgehoben, und aus allem Einzelnen geht es
doch immer wieder in das Ganze eines unendlich reichen und unsäglich armen,
eines eigentümlichsten Lebens hinein, derart, daß, was dem Laien zur Einführung
dient, dem Kenner als Überblick genußreich werden muß.




Grillxarzers Gsterreichertum
von Victor U-lenipercr

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I
i
i in Erkrankter vertraut sich ungern dem fremden, lieber dein
Hausarzt an, der seine Natur seit langem kennt. Aber wendet
sich die Krankheit zum Bedrohlichen, so zieht der Hausarzt gern
einen fremden Fachgenosim zu Rat, der kühler, unbefangener,
voraussetzungsloser und so auch wohl klarer sehen mag. Vor-
und Nachteil der Nähe und Ferne für alles Betrachten ergeben sich hieraus.
Der Nahe steht das Einzelne besser, der Ferne das Ganze, und allzu nah und
allzu sern bewirkt gleiches Verschwimmen des Gegenstandes. Ein Teilgebiet
geistigen Betrachtens, auf dem diese Gefahren besonders häufig wirksam werden,
ist das der Literaturgeschichte. Landsmann und Ausländer treten den: Dichter
oft genug mit gleicher Ungerechtigkeit entgegen. So war es ein sehr glücklicher
Gedanke, daß sich ein Ferner und ein Näher, der Franzose August Ehrhard
und der Österreicher Moritz Necker, zu einer Grillparzer-Biographie verbanden,
an der der französische Gelehrte wohl den Hauptanteil, der Wiener Autor aber
keineswegs nur den des Übersetzers hat. (Verlag der Beetschen Verlagsbuch-'
Handlung in München. 2. Auflage.) Das schöne, sehr schlicht geschriebene Buch
stützt sich sorglich auf eine Unzahl von Vorarbeiten. Grillparzer, den man 1838
beinahe skandalierend ablehnte, den man noch viele Jahre später in Deutschland
wenig kannte, in Österreich nicht übermäßig respektierte, ist längst unbestrittener
Klassiker, es gibt eine Grillparzer- wie eine Goethe-Philologie, immer genauere
wissenschaftliche und volkstümliche Ausgaben seiner Werke häufen sich, und die
österreichischen Literaturforscher August Sauer und Karl Glossu erscheinen wie
die Feldherren eines Heeres von Grillparzerdienern. Eine bessere Ein¬
führung nun in diese ganze sich immer reicher entfaltende Welt als das
Ehrhard-Neckersche Buch ist kaum denkbar. Jedes einzelne Werk des Dichters
wird betrachtet, jeder seiner Gedankengänge verfolgt, Kernpunkte findet man in
Grillparzers eigenen Worten herausgehoben, und aus allem Einzelnen geht es
doch immer wieder in das Ganze eines unendlich reichen und unsäglich armen,
eines eigentümlichsten Lebens hinein, derart, daß, was dem Laien zur Einführung
dient, dem Kenner als Überblick genußreich werden muß.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/306>, abgerufen am 19.05.2024.