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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Line Sommerreise durch das Baltenland

(Line Sommerreise durch das Vatterland
von Prof. Dr. R e i h l e n

S"A-in August 1908 hatte ich das Glück, eine Reise in die "deutschen
! Ostseeprovinzen" Rußlands und weiter hinein nach Rußland zu
machen, eine Reise, die mir außerordentlich viel geboten hat, nicht
bloß an Anschauung von Land und Leuten, sondern auch an Ver¬
ständnis sür die geschichtliche Entwicklung, die sich auf diesem
Boden abgespielt hat. Eben für die Gewinnung des geschichtlichen Verständnisses
war es für mich außerordentlich anregend, nach Riga, Dorpat, Reval und Narwa
auch Petersburg, Moskau und die alten und neueren Fürstensitze Polens zu
sehen: man faßt die Geschichte des mittelalterlichen deutschen Koloniallandes
zwischen der Dura und der Narwa ganz anders auf, wenn man sie unter den
Trümmern der Burg des Herrenmeisters des Deutschen Ordens an seinem
geistigen Auge vorbeiziehen läßt, als wenn man sie auf den Zinnen des goldenen
Kreml oder an den Gräbern der Jagellonen überdenkt. Wenn man, um von
Moskau nach Warschau zu gelangen, sechsunddreißig Stunden im Schnellzug
gesessen und die Unendlichkeit der russisch-polnischen Ebene in sich aufgenommen
hat, dann versteht man ohne weiteres, daß ein schmaler, kurzer Küstensaum von
einer Handvoll Ritter und einigen Handelsstädten gegen zwei wachsende Binnen-
großstaaten und deren naturnotwendigen Drang an ihre Seeküste nicht zu halten
war und auf die Dauer nicht zu halten gewesen wäre, auch wenn bei dem
erstell überwältigenden Ansturm die Deutschen im Ordensland einiger und das
Teutsche Reich weniger ärmlich gewesen wäre.

Einem abstrakter denkenden Menschen würde zu dieser Erkenntnis allerdings
ein Blick auf die gemalte Landkarte genügen, aber -- man versteht das Bild
besser, wenn man das Dargestellte vorher draußen im Gelände durchmessen hat.
Der Deutsche, namentlich der Süddeutsche, der aus seiner bergigen, demokra¬
tischen Heimat mit ihrem Zwerggrundbesitz direkt nach Kurland, Livland, Estland
kommt, glaubt anfangs in eine andere Welt versetzt zu sein; der Russe, der
aus demselben Deutschland in seine Ostseeprovinzen geht, der "wundert sich auf
Schritt und Tritt, daß nirgends eine preußische Pickelhaube auftaucht". Der
Reichsdeutsche erkennt den deutschen Charakter der "einst" deutschen Ostsee¬
provinzen erst ganz, wenn er sich im Innern Rußlands, etwa in Moskau und
Umgebung, aufgehalten hat. Dann sieht er, daß im Baltenland nicht bloß die
Deutschen, die nur 7 Prozent der Bevölkerung ausmachen, das deutsche Wesen
vertreten, sondern bis zu einem gewissen Grade auch alle anderen Bewohner,
bis auf die wenigen Polen und die 5 Prozent Russen. Die Ehlen (37 Prozent)
und die slawischen Letten (45 Prozent der Gesamteinwohnerzahl) sind tief in
die deutsche Kultur hineingezogen, wenn sie es auch nicht wissen oder wenigstens
nicht Wort haben wollen. Diese Kulturgemeinschaft beruht auf der seit Jahr-


Grenzboten II 1911 40
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von Prof. Dr. R e i h l e n

S"A-in August 1908 hatte ich das Glück, eine Reise in die „deutschen
! Ostseeprovinzen" Rußlands und weiter hinein nach Rußland zu
machen, eine Reise, die mir außerordentlich viel geboten hat, nicht
bloß an Anschauung von Land und Leuten, sondern auch an Ver¬
ständnis sür die geschichtliche Entwicklung, die sich auf diesem
Boden abgespielt hat. Eben für die Gewinnung des geschichtlichen Verständnisses
war es für mich außerordentlich anregend, nach Riga, Dorpat, Reval und Narwa
auch Petersburg, Moskau und die alten und neueren Fürstensitze Polens zu
sehen: man faßt die Geschichte des mittelalterlichen deutschen Koloniallandes
zwischen der Dura und der Narwa ganz anders auf, wenn man sie unter den
Trümmern der Burg des Herrenmeisters des Deutschen Ordens an seinem
geistigen Auge vorbeiziehen läßt, als wenn man sie auf den Zinnen des goldenen
Kreml oder an den Gräbern der Jagellonen überdenkt. Wenn man, um von
Moskau nach Warschau zu gelangen, sechsunddreißig Stunden im Schnellzug
gesessen und die Unendlichkeit der russisch-polnischen Ebene in sich aufgenommen
hat, dann versteht man ohne weiteres, daß ein schmaler, kurzer Küstensaum von
einer Handvoll Ritter und einigen Handelsstädten gegen zwei wachsende Binnen-
großstaaten und deren naturnotwendigen Drang an ihre Seeküste nicht zu halten
war und auf die Dauer nicht zu halten gewesen wäre, auch wenn bei dem
erstell überwältigenden Ansturm die Deutschen im Ordensland einiger und das
Teutsche Reich weniger ärmlich gewesen wäre.

Einem abstrakter denkenden Menschen würde zu dieser Erkenntnis allerdings
ein Blick auf die gemalte Landkarte genügen, aber — man versteht das Bild
besser, wenn man das Dargestellte vorher draußen im Gelände durchmessen hat.
Der Deutsche, namentlich der Süddeutsche, der aus seiner bergigen, demokra¬
tischen Heimat mit ihrem Zwerggrundbesitz direkt nach Kurland, Livland, Estland
kommt, glaubt anfangs in eine andere Welt versetzt zu sein; der Russe, der
aus demselben Deutschland in seine Ostseeprovinzen geht, der „wundert sich auf
Schritt und Tritt, daß nirgends eine preußische Pickelhaube auftaucht". Der
Reichsdeutsche erkennt den deutschen Charakter der „einst" deutschen Ostsee¬
provinzen erst ganz, wenn er sich im Innern Rußlands, etwa in Moskau und
Umgebung, aufgehalten hat. Dann sieht er, daß im Baltenland nicht bloß die
Deutschen, die nur 7 Prozent der Bevölkerung ausmachen, das deutsche Wesen
vertreten, sondern bis zu einem gewissen Grade auch alle anderen Bewohner,
bis auf die wenigen Polen und die 5 Prozent Russen. Die Ehlen (37 Prozent)
und die slawischen Letten (45 Prozent der Gesamteinwohnerzahl) sind tief in
die deutsche Kultur hineingezogen, wenn sie es auch nicht wissen oder wenigstens
nicht Wort haben wollen. Diese Kulturgemeinschaft beruht auf der seit Jahr-


Grenzboten II 1911 40
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/325>, abgerufen am 18.05.2024.