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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Anfänge europäischer Kultur führen kann,
möge gesammelt und nach der Fundstelle mit
peinlichster Genauigkeit beschrieben werden;
die Allsdeutung der Funde aber muß denen
überlassen werden, die das ganze Material
in großen: Zusammenhang überschauen rönnen,
Kossinna hält da ein strenges Regiment; es
ist sehr spaßhaft zu sehen, wie er seine Mit¬
arbeiter, wenn sie nicht bei der Stange bleiben,
gelegentlich beim Hhrchen nimmt lind auf den
rechten Weg zu bringen sucht. Das mag für
manchen Forscher, der auf anderen Gebieten
seine volle Selbständigkeit schon bewiesen hat,
recht hart sein, aber bei einer jungen, von
Feinden umlauerten Wissenschaft ist Selbst¬
zucht die beste Waffe,

Die bisherigen Ergebnisse der Prähistorischen
Forschung haben die ältere Auffassung von
dem Sitze und den Wanderungen der Indo-
germanen ja geradezu auf den Kopf gestellt.
Noch heute lernt die Jugend auf den Schulen,
daß die Griechen und Wohl auch die Ger¬
manen von Asien hereingewandert seien, ob¬
wohl heute kein Vorgeschichtler mehr daran
zweifelt, daß Nordwesteuropa der Ausgangs¬
punkt der Nordindogermanen gewesen ist und
daß die Germanen als die Vertreter des ältesten
und edelsten Jndogermanentypus zu gelten
haben. Wieviel begeisternder ist diese Ge¬
schichtsauffassung für unsere Jugend als die
ewig wiederholte Schilderung der barbarischen
Germanen und die Vergötterung der Griechen,
deren edelste Vertreter doch sichtlich den gleichen
Nordindogermanentypus tragen wie die Ger¬
manen! Die Gesellschaft für Vorgeschichte
wird sicher das Ihrige dazu beitragen, die
Auffassung von einer frühen Einflußrichtung:
Nordwest-Südost zu befestigen und in Um¬
lauf zu bringen, damit dem Volke und der
Jugend diese Wahrheit nicht länger vorent¬
halten bleibt. Wenn auch die Forschung sich
nicht von nationalen Interessen leiten lassen
darf -- Kossinna verlegt ja übrigens den
Ausgangspunkt der Indogermanen nach Nord¬
frankreich --, so haben wir doch allen Grund,
das Volksbewußtsein nach den Ergebnissen,
die sür die Germanen günstig gewesen sind,
durch Verbreitung dieser Ergebnisse zu er¬
freuen und zu kräftigen; und deshalb gebührt
der Gesellschaft für Vorgeschichte das Interesse
der weitesten Kreise. Fritz Tychow-Linbcck

[Spaltenumbruch]
Tagesfragen
Biologicund Politik.

In den "Grenzboten"
(70. Jahrgang, Ur. 17) nennt Prof. Dr. Holle
die Politik eine Kunst von dem notwendigen
das Mögliche zu verwirklichen. Wenn diese
Bestimmung richtig ist, so findet das Mögliche
in den gegebenen Tatsachen seine Begrenzung,
während das Notwendige aus dem Reich des
Ideals stammt, denn Notwendigkeit kann in
diesem Zusammenhang nichts anderes bedeuten
als eine Forderung, und wir müßten keine
Menschen sein, wenn wir sie nicht mit einem
idealen Inhalt erfüllen wollten. Mit Recht
bemerkt Holle, daß bei den so mannigfachen
verschlungenen Zusammenhängen unseres
Kulturlebens die Entscheidung über die
Möglichkeiten und den besseren Weg zu ihrer
Verwirklichung nach bester Überzeugung der
einzelnen verschieden ausfallen muß, und wir
müssen hinzufügen, daß auch die erkannte
Notwendigkeit als ideale Forderung nicht für
jedermann die gleiche ist. Wird die Be¬
stimmung der Politik als angewandte Biologie
angenommen, wie Holle es tut, so ist jene
Notwendigkeit in der Erhaltung des Lebens
gegeben, denn die Biologie kennt nichts
anderes als die Tatsache des Lebens und
verzichtet als Naturwissenschaft auf jedwede
Wertsetzung, und einer Politik, die nichts
anderes sein will als angewandte Biologie,
kann nur das, was der Erhaltung des Lebens
dient, als Wert gelten,

Ist die Erhaltung deS Lebens wirklich
das Endziel aller Politik? Gleicht die Politik
nicht vielmehr einem Baume, der aus dem
Boden des NaturgeschehenS die Kraft saugt,
um in seiner Krone die ganze Fülle der
Kulturgüter zur harmonischen Entfaltung zu
bringen? Natur und Kultur ist zweierlei.
Die Kultur schafft der Mensch, indem er
Werte setzt, und weil er wertet, läßt er sich
in das Nnturgeschehen nicht restlos einordnen.
Der Mensch als Naturwesen und der Mensch
als Schöpfer und Träger der Kultur -- das
sind die Enden eines Bogens, die die Politik
zusammenhalten muß, damit der Pfeil mensch¬
lichen Strebens gen Himmel steige.

Eine Politik, der die Biologie die Richtung
gibt, betrachtet den Menschen allzu einseitig
als Naturwesen. Wenn sie behauptet, daß

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Anfänge europäischer Kultur führen kann,
möge gesammelt und nach der Fundstelle mit
peinlichster Genauigkeit beschrieben werden;
die Allsdeutung der Funde aber muß denen
überlassen werden, die das ganze Material
in großen: Zusammenhang überschauen rönnen,
Kossinna hält da ein strenges Regiment; es
ist sehr spaßhaft zu sehen, wie er seine Mit¬
arbeiter, wenn sie nicht bei der Stange bleiben,
gelegentlich beim Hhrchen nimmt lind auf den
rechten Weg zu bringen sucht. Das mag für
manchen Forscher, der auf anderen Gebieten
seine volle Selbständigkeit schon bewiesen hat,
recht hart sein, aber bei einer jungen, von
Feinden umlauerten Wissenschaft ist Selbst¬
zucht die beste Waffe,

Die bisherigen Ergebnisse der Prähistorischen
Forschung haben die ältere Auffassung von
dem Sitze und den Wanderungen der Indo-
germanen ja geradezu auf den Kopf gestellt.
Noch heute lernt die Jugend auf den Schulen,
daß die Griechen und Wohl auch die Ger¬
manen von Asien hereingewandert seien, ob¬
wohl heute kein Vorgeschichtler mehr daran
zweifelt, daß Nordwesteuropa der Ausgangs¬
punkt der Nordindogermanen gewesen ist und
daß die Germanen als die Vertreter des ältesten
und edelsten Jndogermanentypus zu gelten
haben. Wieviel begeisternder ist diese Ge¬
schichtsauffassung für unsere Jugend als die
ewig wiederholte Schilderung der barbarischen
Germanen und die Vergötterung der Griechen,
deren edelste Vertreter doch sichtlich den gleichen
Nordindogermanentypus tragen wie die Ger¬
manen! Die Gesellschaft für Vorgeschichte
wird sicher das Ihrige dazu beitragen, die
Auffassung von einer frühen Einflußrichtung:
Nordwest-Südost zu befestigen und in Um¬
lauf zu bringen, damit dem Volke und der
Jugend diese Wahrheit nicht länger vorent¬
halten bleibt. Wenn auch die Forschung sich
nicht von nationalen Interessen leiten lassen
darf — Kossinna verlegt ja übrigens den
Ausgangspunkt der Indogermanen nach Nord¬
frankreich —, so haben wir doch allen Grund,
das Volksbewußtsein nach den Ergebnissen,
die sür die Germanen günstig gewesen sind,
durch Verbreitung dieser Ergebnisse zu er¬
freuen und zu kräftigen; und deshalb gebührt
der Gesellschaft für Vorgeschichte das Interesse
der weitesten Kreise. Fritz Tychow-Linbcck

[Spaltenumbruch]
Tagesfragen
Biologicund Politik.

In den „Grenzboten"
(70. Jahrgang, Ur. 17) nennt Prof. Dr. Holle
die Politik eine Kunst von dem notwendigen
das Mögliche zu verwirklichen. Wenn diese
Bestimmung richtig ist, so findet das Mögliche
in den gegebenen Tatsachen seine Begrenzung,
während das Notwendige aus dem Reich des
Ideals stammt, denn Notwendigkeit kann in
diesem Zusammenhang nichts anderes bedeuten
als eine Forderung, und wir müßten keine
Menschen sein, wenn wir sie nicht mit einem
idealen Inhalt erfüllen wollten. Mit Recht
bemerkt Holle, daß bei den so mannigfachen
verschlungenen Zusammenhängen unseres
Kulturlebens die Entscheidung über die
Möglichkeiten und den besseren Weg zu ihrer
Verwirklichung nach bester Überzeugung der
einzelnen verschieden ausfallen muß, und wir
müssen hinzufügen, daß auch die erkannte
Notwendigkeit als ideale Forderung nicht für
jedermann die gleiche ist. Wird die Be¬
stimmung der Politik als angewandte Biologie
angenommen, wie Holle es tut, so ist jene
Notwendigkeit in der Erhaltung des Lebens
gegeben, denn die Biologie kennt nichts
anderes als die Tatsache des Lebens und
verzichtet als Naturwissenschaft auf jedwede
Wertsetzung, und einer Politik, die nichts
anderes sein will als angewandte Biologie,
kann nur das, was der Erhaltung des Lebens
dient, als Wert gelten,

Ist die Erhaltung deS Lebens wirklich
das Endziel aller Politik? Gleicht die Politik
nicht vielmehr einem Baume, der aus dem
Boden des NaturgeschehenS die Kraft saugt,
um in seiner Krone die ganze Fülle der
Kulturgüter zur harmonischen Entfaltung zu
bringen? Natur und Kultur ist zweierlei.
Die Kultur schafft der Mensch, indem er
Werte setzt, und weil er wertet, läßt er sich
in das Nnturgeschehen nicht restlos einordnen.
Der Mensch als Naturwesen und der Mensch
als Schöpfer und Träger der Kultur — das
sind die Enden eines Bogens, die die Politik
zusammenhalten muß, damit der Pfeil mensch¬
lichen Strebens gen Himmel steige.

Eine Politik, der die Biologie die Richtung
gibt, betrachtet den Menschen allzu einseitig
als Naturwesen. Wenn sie behauptet, daß

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[0338] Maßgebliches und Unmaßgebliches Anfänge europäischer Kultur führen kann, möge gesammelt und nach der Fundstelle mit peinlichster Genauigkeit beschrieben werden; die Allsdeutung der Funde aber muß denen überlassen werden, die das ganze Material in großen: Zusammenhang überschauen rönnen, Kossinna hält da ein strenges Regiment; es ist sehr spaßhaft zu sehen, wie er seine Mit¬ arbeiter, wenn sie nicht bei der Stange bleiben, gelegentlich beim Hhrchen nimmt lind auf den rechten Weg zu bringen sucht. Das mag für manchen Forscher, der auf anderen Gebieten seine volle Selbständigkeit schon bewiesen hat, recht hart sein, aber bei einer jungen, von Feinden umlauerten Wissenschaft ist Selbst¬ zucht die beste Waffe, Die bisherigen Ergebnisse der Prähistorischen Forschung haben die ältere Auffassung von dem Sitze und den Wanderungen der Indo- germanen ja geradezu auf den Kopf gestellt. Noch heute lernt die Jugend auf den Schulen, daß die Griechen und Wohl auch die Ger¬ manen von Asien hereingewandert seien, ob¬ wohl heute kein Vorgeschichtler mehr daran zweifelt, daß Nordwesteuropa der Ausgangs¬ punkt der Nordindogermanen gewesen ist und daß die Germanen als die Vertreter des ältesten und edelsten Jndogermanentypus zu gelten haben. Wieviel begeisternder ist diese Ge¬ schichtsauffassung für unsere Jugend als die ewig wiederholte Schilderung der barbarischen Germanen und die Vergötterung der Griechen, deren edelste Vertreter doch sichtlich den gleichen Nordindogermanentypus tragen wie die Ger¬ manen! Die Gesellschaft für Vorgeschichte wird sicher das Ihrige dazu beitragen, die Auffassung von einer frühen Einflußrichtung: Nordwest-Südost zu befestigen und in Um¬ lauf zu bringen, damit dem Volke und der Jugend diese Wahrheit nicht länger vorent¬ halten bleibt. Wenn auch die Forschung sich nicht von nationalen Interessen leiten lassen darf — Kossinna verlegt ja übrigens den Ausgangspunkt der Indogermanen nach Nord¬ frankreich —, so haben wir doch allen Grund, das Volksbewußtsein nach den Ergebnissen, die sür die Germanen günstig gewesen sind, durch Verbreitung dieser Ergebnisse zu er¬ freuen und zu kräftigen; und deshalb gebührt der Gesellschaft für Vorgeschichte das Interesse der weitesten Kreise. Fritz Tychow-Linbcck Tagesfragen Biologicund Politik. In den „Grenzboten" (70. Jahrgang, Ur. 17) nennt Prof. Dr. Holle die Politik eine Kunst von dem notwendigen das Mögliche zu verwirklichen. Wenn diese Bestimmung richtig ist, so findet das Mögliche in den gegebenen Tatsachen seine Begrenzung, während das Notwendige aus dem Reich des Ideals stammt, denn Notwendigkeit kann in diesem Zusammenhang nichts anderes bedeuten als eine Forderung, und wir müßten keine Menschen sein, wenn wir sie nicht mit einem idealen Inhalt erfüllen wollten. Mit Recht bemerkt Holle, daß bei den so mannigfachen verschlungenen Zusammenhängen unseres Kulturlebens die Entscheidung über die Möglichkeiten und den besseren Weg zu ihrer Verwirklichung nach bester Überzeugung der einzelnen verschieden ausfallen muß, und wir müssen hinzufügen, daß auch die erkannte Notwendigkeit als ideale Forderung nicht für jedermann die gleiche ist. Wird die Be¬ stimmung der Politik als angewandte Biologie angenommen, wie Holle es tut, so ist jene Notwendigkeit in der Erhaltung des Lebens gegeben, denn die Biologie kennt nichts anderes als die Tatsache des Lebens und verzichtet als Naturwissenschaft auf jedwede Wertsetzung, und einer Politik, die nichts anderes sein will als angewandte Biologie, kann nur das, was der Erhaltung des Lebens dient, als Wert gelten, Ist die Erhaltung deS Lebens wirklich das Endziel aller Politik? Gleicht die Politik nicht vielmehr einem Baume, der aus dem Boden des NaturgeschehenS die Kraft saugt, um in seiner Krone die ganze Fülle der Kulturgüter zur harmonischen Entfaltung zu bringen? Natur und Kultur ist zweierlei. Die Kultur schafft der Mensch, indem er Werte setzt, und weil er wertet, läßt er sich in das Nnturgeschehen nicht restlos einordnen. Der Mensch als Naturwesen und der Mensch als Schöpfer und Träger der Kultur — das sind die Enden eines Bogens, die die Politik zusammenhalten muß, damit der Pfeil mensch¬ lichen Strebens gen Himmel steige. Eine Politik, der die Biologie die Richtung gibt, betrachtet den Menschen allzu einseitig als Naturwesen. Wenn sie behauptet, daß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/338>, abgerufen am 19.05.2024.