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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Die Wiederkunft Naundorffs

ruft, und darum darf man sich der festen Zuversicht hingeben, daß der Appell
der Juristen, welche sich zu dieser Vereinigung zusammengetan haben, nicht
ungehört verhallen wird. Und wenn der Fortschritt auch langsam und mühsam
sein wird, wenn die Herrschaft des Alten, wenn Vorurteil und Beharrungs¬
vermögen sich den neuen Forderungen wiederholt in den Weg stellen werden,
so ist doch das, was die Freirechtsbewegung erstrebt, derart das Bedürfnis der
Gegenwart und Zukunft, geht derart parallel mit den Fortschritten, die auf
anderen Wissensgebieten bereits errungen worden sind, daß auch die Entwicklung
der Jurisprudenz auf die Dauer nicht hintanzuhalten sein wird. Wir müssen
und werden zu einem Rechte kommen, wie es das römische in der Zeit seiner
höchsten Blüte war. ehe es dem Scholästizismus verfiel, einem Rechte, welches ist:


,,^rs boni et aequi."


Die Wiederkunft Naundorffs
von Prof. Dr. Gelo Tschirch

g ewisse Legenden sind unausrottbar. Geschichten, denen etwas
Geheimnisvolles anhaftet, behalten allezeit ihren Reiz für die
Menge, das heißt für die Allzuvielen vornehmer und niedriger
Abkunft, die sich lieber ihrer Einbildungskraft überlassen, als
logisch systematisch denken. Diese allgemeine Wahrheit hat sich
selten so voll bewährt als bei der Naundorfflegende. Nicht nur, daß der deutsche
Bettler, der im Mai 1833 in Paris ankam und sich den Sohn Ludwigs des
Sechzehnten nannte, bald zahlreiche vornehme Anhänger fand und schließlich sogar
am niederländischen Hofe Gläubige gewann, die dem Prätendenten einen könig¬
lichen Grabstein verschafften, nein, auch nach seinem Tode wucherte die Legende
fort, liebevolle und hingebende Adepten pflegten die wunderbare Lebensgeschichte
des Prätendenten fort, und wiederholt, in den fünfziger und siebziger Jahren
des vorigen Jahrhunderts, wurde die Naundorfffrage vor die französischen
Gerichte gebracht, allerdings niemals mit Erfolg. Und auch seitdem ist die
Beschäftigung mit diesem Problem nicht erloschen. Die Gemeinde der Naun-
dorffisten stirbt nicht aus, sondern pflanzt sich wie eine religiöse Sekte fort und
vermehrt sich wohl gar. Seit dreißig Jahren wird in Frankreich eine Zeitschrift
La Lögitimitö herausgegeben, auf schlechtem, billigem Papier zwar, aber ein
Jahrgang folgt dem anderen, und so muß es doch nicht an Gläubigen fehlen.
Und daneben gibt es in Frankreich Literaten, die ihre ganze Kraft der Erhaltung
und Fortbildung der Naundorfftradition widmen, so Otto Friedrichs, "der Vater


Die Wiederkunft Naundorffs

ruft, und darum darf man sich der festen Zuversicht hingeben, daß der Appell
der Juristen, welche sich zu dieser Vereinigung zusammengetan haben, nicht
ungehört verhallen wird. Und wenn der Fortschritt auch langsam und mühsam
sein wird, wenn die Herrschaft des Alten, wenn Vorurteil und Beharrungs¬
vermögen sich den neuen Forderungen wiederholt in den Weg stellen werden,
so ist doch das, was die Freirechtsbewegung erstrebt, derart das Bedürfnis der
Gegenwart und Zukunft, geht derart parallel mit den Fortschritten, die auf
anderen Wissensgebieten bereits errungen worden sind, daß auch die Entwicklung
der Jurisprudenz auf die Dauer nicht hintanzuhalten sein wird. Wir müssen
und werden zu einem Rechte kommen, wie es das römische in der Zeit seiner
höchsten Blüte war. ehe es dem Scholästizismus verfiel, einem Rechte, welches ist:


,,^rs boni et aequi."


Die Wiederkunft Naundorffs
von Prof. Dr. Gelo Tschirch

g ewisse Legenden sind unausrottbar. Geschichten, denen etwas
Geheimnisvolles anhaftet, behalten allezeit ihren Reiz für die
Menge, das heißt für die Allzuvielen vornehmer und niedriger
Abkunft, die sich lieber ihrer Einbildungskraft überlassen, als
logisch systematisch denken. Diese allgemeine Wahrheit hat sich
selten so voll bewährt als bei der Naundorfflegende. Nicht nur, daß der deutsche
Bettler, der im Mai 1833 in Paris ankam und sich den Sohn Ludwigs des
Sechzehnten nannte, bald zahlreiche vornehme Anhänger fand und schließlich sogar
am niederländischen Hofe Gläubige gewann, die dem Prätendenten einen könig¬
lichen Grabstein verschafften, nein, auch nach seinem Tode wucherte die Legende
fort, liebevolle und hingebende Adepten pflegten die wunderbare Lebensgeschichte
des Prätendenten fort, und wiederholt, in den fünfziger und siebziger Jahren
des vorigen Jahrhunderts, wurde die Naundorfffrage vor die französischen
Gerichte gebracht, allerdings niemals mit Erfolg. Und auch seitdem ist die
Beschäftigung mit diesem Problem nicht erloschen. Die Gemeinde der Naun-
dorffisten stirbt nicht aus, sondern pflanzt sich wie eine religiöse Sekte fort und
vermehrt sich wohl gar. Seit dreißig Jahren wird in Frankreich eine Zeitschrift
La Lögitimitö herausgegeben, auf schlechtem, billigem Papier zwar, aber ein
Jahrgang folgt dem anderen, und so muß es doch nicht an Gläubigen fehlen.
Und daneben gibt es in Frankreich Literaten, die ihre ganze Kraft der Erhaltung
und Fortbildung der Naundorfftradition widmen, so Otto Friedrichs, „der Vater


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[0355] Die Wiederkunft Naundorffs ruft, und darum darf man sich der festen Zuversicht hingeben, daß der Appell der Juristen, welche sich zu dieser Vereinigung zusammengetan haben, nicht ungehört verhallen wird. Und wenn der Fortschritt auch langsam und mühsam sein wird, wenn die Herrschaft des Alten, wenn Vorurteil und Beharrungs¬ vermögen sich den neuen Forderungen wiederholt in den Weg stellen werden, so ist doch das, was die Freirechtsbewegung erstrebt, derart das Bedürfnis der Gegenwart und Zukunft, geht derart parallel mit den Fortschritten, die auf anderen Wissensgebieten bereits errungen worden sind, daß auch die Entwicklung der Jurisprudenz auf die Dauer nicht hintanzuhalten sein wird. Wir müssen und werden zu einem Rechte kommen, wie es das römische in der Zeit seiner höchsten Blüte war. ehe es dem Scholästizismus verfiel, einem Rechte, welches ist: ,,^rs boni et aequi." Die Wiederkunft Naundorffs von Prof. Dr. Gelo Tschirch g ewisse Legenden sind unausrottbar. Geschichten, denen etwas Geheimnisvolles anhaftet, behalten allezeit ihren Reiz für die Menge, das heißt für die Allzuvielen vornehmer und niedriger Abkunft, die sich lieber ihrer Einbildungskraft überlassen, als logisch systematisch denken. Diese allgemeine Wahrheit hat sich selten so voll bewährt als bei der Naundorfflegende. Nicht nur, daß der deutsche Bettler, der im Mai 1833 in Paris ankam und sich den Sohn Ludwigs des Sechzehnten nannte, bald zahlreiche vornehme Anhänger fand und schließlich sogar am niederländischen Hofe Gläubige gewann, die dem Prätendenten einen könig¬ lichen Grabstein verschafften, nein, auch nach seinem Tode wucherte die Legende fort, liebevolle und hingebende Adepten pflegten die wunderbare Lebensgeschichte des Prätendenten fort, und wiederholt, in den fünfziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, wurde die Naundorfffrage vor die französischen Gerichte gebracht, allerdings niemals mit Erfolg. Und auch seitdem ist die Beschäftigung mit diesem Problem nicht erloschen. Die Gemeinde der Naun- dorffisten stirbt nicht aus, sondern pflanzt sich wie eine religiöse Sekte fort und vermehrt sich wohl gar. Seit dreißig Jahren wird in Frankreich eine Zeitschrift La Lögitimitö herausgegeben, auf schlechtem, billigem Papier zwar, aber ein Jahrgang folgt dem anderen, und so muß es doch nicht an Gläubigen fehlen. Und daneben gibt es in Frankreich Literaten, die ihre ganze Kraft der Erhaltung und Fortbildung der Naundorfftradition widmen, so Otto Friedrichs, „der Vater

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/355>, abgerufen am 19.05.2024.