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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Reichsspiegel

Reichsspiegel
Innere Politik

Die elsaß-lothringische Verfassungsreform unter Dach -- Übergang zum parla¬
mentarischen Regierungssystem -- Ein Neichsooerhaus -- Versagen der Deutsch-
konserwtiven -- Sieg des Revisionismus

Nach langwierigen, oftmals unterbrochenen und wiederholt als gescheitert
angesehenen Verhandlungen ist die elsaß-lothringische Verfassungsreform
so weit gediehen, daß sie nur noch der Bestätigung durch den Bundesrat und
der Veröffentlichung im Reichsanzeiger bedarf, um Gesetz zu werden. Die
vielfach veränderte Vorlage der Regierung ist am Sonnabend, den 27. Mai,
durch den Reichstag in dritter Lesung mit 211 gegen 93 Stimmen, bei 7 Stimm¬
enthaltungen, endgültig genehmigt worden. Die in den Grenzboten vertretenen
Anschauungen sind somit unterlegen, und wir sind genötigt, das bekämpfte
Gesetz als Bestandteil unseres verfassungsmäßigen Daseins zu achten und an¬
zuerkennen. Tun wir solches auch, so bleibt uns dennoch die Pflicht, der
Entwicklung der neuen politischen Verhältnisse in den Reichslanden erhöhte
Aufmerksamkeit zu schenken. Doppelt groß ist diese Pflicht, weil wir uns mit
der Auffassung des Herrn Reichskanzlers über die Notwendigkeit der Einbringung
der entsprechenden Vorlagen in Widerspruch befinden. Es ist richtig, daß die
Reichsregierung seit zehn und mehr Jahren im Reichstage nach der Verfassungs¬
vorlage für Elsaß-Lothringen gefragt worden ist; aber es trifft nicht zu, wie
Herrn v. Bethmanns Ausführungen den Anschein erwecken, als bedeutete die
Aufschiebung der Reform um ein weiteres Jahr eine Gefahr für das Reich.
Gewiß, die politischen Zustände am Wasgau sind wenig erquicklich. Aber
gerade deshalb war die Einleitung der Aktion zu ihrer Besserung nur in einem
Augenblick am Platze, in dem die Regierung sich gut vorbereitet fühlte und
zielbewußt aufzutreten vermochte, nicht in einer Zeit, wo die Regierung keinen
Überblick darüber haben konnte, mit wessen Hilfe sie die Reform zustande bringen
mußte, das will sagen, welches Gesicht die Reform im Reichstage annehmen
würde. Die nationalen Mittelparteien, die für die Reform eintraten, waren
höchlich und durchaus nicht angenehm überrascht, als ihnen die Absicht des
Kanzlers bekannt wurde, die Angelegenheit noch durch den alten Reichstag
erledigen zu lassen, eine Arbeit, die dem neuen wohl angestanden hätte. Doch
die Regierung handelte unter dem Druck der Zentrumspartei, mit der sie unter
allen Umständen in Frieden leben will. Ich weiß nicht, ob der hierfür bezahlte
Preis nicht doch viel zu hoch ist.

Es soll nicht darüber orakelt werden, wie die Dinge nunmehr in den
Neichslanden lausen werden; ich glaube, daß, nachdem unsere im Dezember
zum Ausdruck gebrachten Wünsche wegen des Wahlrechts und der Sicherstellung
der deutschen Sprache Berücksichtigung gefunden haben, in den Reichslanden


Grenzvoten II 1911 64
Reichsspiegel

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Innere Politik

Die elsaß-lothringische Verfassungsreform unter Dach — Übergang zum parla¬
mentarischen Regierungssystem — Ein Neichsooerhaus — Versagen der Deutsch-
konserwtiven — Sieg des Revisionismus

Nach langwierigen, oftmals unterbrochenen und wiederholt als gescheitert
angesehenen Verhandlungen ist die elsaß-lothringische Verfassungsreform
so weit gediehen, daß sie nur noch der Bestätigung durch den Bundesrat und
der Veröffentlichung im Reichsanzeiger bedarf, um Gesetz zu werden. Die
vielfach veränderte Vorlage der Regierung ist am Sonnabend, den 27. Mai,
durch den Reichstag in dritter Lesung mit 211 gegen 93 Stimmen, bei 7 Stimm¬
enthaltungen, endgültig genehmigt worden. Die in den Grenzboten vertretenen
Anschauungen sind somit unterlegen, und wir sind genötigt, das bekämpfte
Gesetz als Bestandteil unseres verfassungsmäßigen Daseins zu achten und an¬
zuerkennen. Tun wir solches auch, so bleibt uns dennoch die Pflicht, der
Entwicklung der neuen politischen Verhältnisse in den Reichslanden erhöhte
Aufmerksamkeit zu schenken. Doppelt groß ist diese Pflicht, weil wir uns mit
der Auffassung des Herrn Reichskanzlers über die Notwendigkeit der Einbringung
der entsprechenden Vorlagen in Widerspruch befinden. Es ist richtig, daß die
Reichsregierung seit zehn und mehr Jahren im Reichstage nach der Verfassungs¬
vorlage für Elsaß-Lothringen gefragt worden ist; aber es trifft nicht zu, wie
Herrn v. Bethmanns Ausführungen den Anschein erwecken, als bedeutete die
Aufschiebung der Reform um ein weiteres Jahr eine Gefahr für das Reich.
Gewiß, die politischen Zustände am Wasgau sind wenig erquicklich. Aber
gerade deshalb war die Einleitung der Aktion zu ihrer Besserung nur in einem
Augenblick am Platze, in dem die Regierung sich gut vorbereitet fühlte und
zielbewußt aufzutreten vermochte, nicht in einer Zeit, wo die Regierung keinen
Überblick darüber haben konnte, mit wessen Hilfe sie die Reform zustande bringen
mußte, das will sagen, welches Gesicht die Reform im Reichstage annehmen
würde. Die nationalen Mittelparteien, die für die Reform eintraten, waren
höchlich und durchaus nicht angenehm überrascht, als ihnen die Absicht des
Kanzlers bekannt wurde, die Angelegenheit noch durch den alten Reichstag
erledigen zu lassen, eine Arbeit, die dem neuen wohl angestanden hätte. Doch
die Regierung handelte unter dem Druck der Zentrumspartei, mit der sie unter
allen Umständen in Frieden leben will. Ich weiß nicht, ob der hierfür bezahlte
Preis nicht doch viel zu hoch ist.

Es soll nicht darüber orakelt werden, wie die Dinge nunmehr in den
Neichslanden lausen werden; ich glaube, daß, nachdem unsere im Dezember
zum Ausdruck gebrachten Wünsche wegen des Wahlrechts und der Sicherstellung
der deutschen Sprache Berücksichtigung gefunden haben, in den Reichslanden


Grenzvoten II 1911 64
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[0437] Reichsspiegel Reichsspiegel Innere Politik Die elsaß-lothringische Verfassungsreform unter Dach — Übergang zum parla¬ mentarischen Regierungssystem — Ein Neichsooerhaus — Versagen der Deutsch- konserwtiven — Sieg des Revisionismus Nach langwierigen, oftmals unterbrochenen und wiederholt als gescheitert angesehenen Verhandlungen ist die elsaß-lothringische Verfassungsreform so weit gediehen, daß sie nur noch der Bestätigung durch den Bundesrat und der Veröffentlichung im Reichsanzeiger bedarf, um Gesetz zu werden. Die vielfach veränderte Vorlage der Regierung ist am Sonnabend, den 27. Mai, durch den Reichstag in dritter Lesung mit 211 gegen 93 Stimmen, bei 7 Stimm¬ enthaltungen, endgültig genehmigt worden. Die in den Grenzboten vertretenen Anschauungen sind somit unterlegen, und wir sind genötigt, das bekämpfte Gesetz als Bestandteil unseres verfassungsmäßigen Daseins zu achten und an¬ zuerkennen. Tun wir solches auch, so bleibt uns dennoch die Pflicht, der Entwicklung der neuen politischen Verhältnisse in den Reichslanden erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken. Doppelt groß ist diese Pflicht, weil wir uns mit der Auffassung des Herrn Reichskanzlers über die Notwendigkeit der Einbringung der entsprechenden Vorlagen in Widerspruch befinden. Es ist richtig, daß die Reichsregierung seit zehn und mehr Jahren im Reichstage nach der Verfassungs¬ vorlage für Elsaß-Lothringen gefragt worden ist; aber es trifft nicht zu, wie Herrn v. Bethmanns Ausführungen den Anschein erwecken, als bedeutete die Aufschiebung der Reform um ein weiteres Jahr eine Gefahr für das Reich. Gewiß, die politischen Zustände am Wasgau sind wenig erquicklich. Aber gerade deshalb war die Einleitung der Aktion zu ihrer Besserung nur in einem Augenblick am Platze, in dem die Regierung sich gut vorbereitet fühlte und zielbewußt aufzutreten vermochte, nicht in einer Zeit, wo die Regierung keinen Überblick darüber haben konnte, mit wessen Hilfe sie die Reform zustande bringen mußte, das will sagen, welches Gesicht die Reform im Reichstage annehmen würde. Die nationalen Mittelparteien, die für die Reform eintraten, waren höchlich und durchaus nicht angenehm überrascht, als ihnen die Absicht des Kanzlers bekannt wurde, die Angelegenheit noch durch den alten Reichstag erledigen zu lassen, eine Arbeit, die dem neuen wohl angestanden hätte. Doch die Regierung handelte unter dem Druck der Zentrumspartei, mit der sie unter allen Umständen in Frieden leben will. Ich weiß nicht, ob der hierfür bezahlte Preis nicht doch viel zu hoch ist. Es soll nicht darüber orakelt werden, wie die Dinge nunmehr in den Neichslanden lausen werden; ich glaube, daß, nachdem unsere im Dezember zum Ausdruck gebrachten Wünsche wegen des Wahlrechts und der Sicherstellung der deutschen Sprache Berücksichtigung gefunden haben, in den Reichslanden Grenzvoten II 1911 64

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/437>, abgerufen am 18.05.2024.