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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Reichsspiegel

Reichsspiegel
Innere Politik

Dor sterbende Reichstag -- Die Haltung der Negierung -- Herr von Bethmann
und Fürst Swjatopoll-Mirsli -- Parlamentarismus -- Reichstagswnhlrecht für
Preußen.

Die Parlamente sind in die Ferien gegangen und besonders dem Reichstage
werden in allen Zeitungen Zensuren geschrieben. Um Weihnachten herum haben
wohl nur wenige Wähler daran geglaubt, daß ihr Sprößling noch Anerkennung
finden könnte, und resigniert belegten sie den Siechen mit trostlosen Wort: der
sterbende Reichstag. Nach Ostern indessen begann der Reichstag einige starke
Lebensregungen von sich zu geben, und jetzt am Schluß des Arbeitsabschnitts muß
von allen Seiten anerkannt werden, daß der Sterbende sich mächtig aufgerafft und
recht beachtenswerte Arbeit geleistet hat. Wem dankt der Reichstag das neuerliche
Aufblühen? Aus welcher Kraftquelle fließt ihm das Selbstbewußtsein und die
neue Lust zu harter Arbeit? Sind neue Männer aufgetreten, haben neue Ideen
die Köpfe erhellt? Nichts von alledem! Männer und Köpfe sind die alten! In
den Reihen der Parlamentarier sind keine neuen Führer aufgestanden. In den
Beziehungen der Parteien zueinander sind sichtbare Verschiebungen nicht eingetreten,
wenigstens nicht zu einem Zeitpunkt, der der jüngsten Arbeit vorausgegangen
wäre. Also eine innere Ursache für das Aufleben des Reichstags ist nirgends zu
erkennen. Wir müssen somit suchen, ob nicht äußere Umstände in der angedeuteten
Richtung gewirkt haben. Im Lande draußen unter den Wählermassen haben keinerlei
Kundgebungen stattgefunden, die irgendwie die Arbeiten des Reichstags beeinflußt
hätten. Alle Versammlungen und Resolutionen, die den Fraktionen des Reichstags
aus dem Lande zu Leibe gingen, übermittelten eigentlich nur Sonderwünsche auf
wirtschaftlichen: Gebiet, sei es der Handlungsgehilfen, sei es der Ärzte oder
Handelskammern. Zu großen nationalpolitischen Kundgebungen hat man unter
der Herrschaft der Jnteressenverbände im lieben Deutschland keine Kraft mehr!
Greifen wir zum nächstliegensten, dann sind wir auf dem richtigen Wege.
Die Haltung der Regierung ist es, die das Wunder bewirkte. In der
Tat, die Haltung der Regierung in den beiden wichtigsten den Reichstag
beschäftigenden Fragen, in der elsaß-lothringischen und in der Reichsversicherungs¬
frage, ist es gewesen, die das Aufleben des Reichstags bewirkte. Jeder liberal
denkende Mann, aber auch jeder Staatsmann, demi die Wohlfahrt des Reichs
aur Herzen liegt, wird sich des Ergebnisses freuen, denn die Volksvertretung
bildet einen wesentlichen Teil der Reichsregierung, und jede Diskreditierung und
öffentliche Herabsetzung dieses Teiles muß naturgemäß auch die Autorität des
anderen Teiles der Negierung, des exekutiven, schädigen. Freilich, auch hier geht
es ohne ein Aber nicht ab und gerade die Haltung der Regierung, die die Volks¬
vertretung mit neuen Kräften erfüllte, findet aus dem Parlamente heraus scharfe
Verurteilung. In der Presse aller Richtungen wird der Reichsregierung schwächliche
Nachgiebigkeit vorgeworfen, und der Abgeordnete Stresemann faßt die Gesamt¬
auffassung über die Regierung nur klar zusammen, wenn er in der Magdeburgischen


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Innere Politik

Dor sterbende Reichstag — Die Haltung der Negierung — Herr von Bethmann
und Fürst Swjatopoll-Mirsli — Parlamentarismus — Reichstagswnhlrecht für
Preußen.

Die Parlamente sind in die Ferien gegangen und besonders dem Reichstage
werden in allen Zeitungen Zensuren geschrieben. Um Weihnachten herum haben
wohl nur wenige Wähler daran geglaubt, daß ihr Sprößling noch Anerkennung
finden könnte, und resigniert belegten sie den Siechen mit trostlosen Wort: der
sterbende Reichstag. Nach Ostern indessen begann der Reichstag einige starke
Lebensregungen von sich zu geben, und jetzt am Schluß des Arbeitsabschnitts muß
von allen Seiten anerkannt werden, daß der Sterbende sich mächtig aufgerafft und
recht beachtenswerte Arbeit geleistet hat. Wem dankt der Reichstag das neuerliche
Aufblühen? Aus welcher Kraftquelle fließt ihm das Selbstbewußtsein und die
neue Lust zu harter Arbeit? Sind neue Männer aufgetreten, haben neue Ideen
die Köpfe erhellt? Nichts von alledem! Männer und Köpfe sind die alten! In
den Reihen der Parlamentarier sind keine neuen Führer aufgestanden. In den
Beziehungen der Parteien zueinander sind sichtbare Verschiebungen nicht eingetreten,
wenigstens nicht zu einem Zeitpunkt, der der jüngsten Arbeit vorausgegangen
wäre. Also eine innere Ursache für das Aufleben des Reichstags ist nirgends zu
erkennen. Wir müssen somit suchen, ob nicht äußere Umstände in der angedeuteten
Richtung gewirkt haben. Im Lande draußen unter den Wählermassen haben keinerlei
Kundgebungen stattgefunden, die irgendwie die Arbeiten des Reichstags beeinflußt
hätten. Alle Versammlungen und Resolutionen, die den Fraktionen des Reichstags
aus dem Lande zu Leibe gingen, übermittelten eigentlich nur Sonderwünsche auf
wirtschaftlichen: Gebiet, sei es der Handlungsgehilfen, sei es der Ärzte oder
Handelskammern. Zu großen nationalpolitischen Kundgebungen hat man unter
der Herrschaft der Jnteressenverbände im lieben Deutschland keine Kraft mehr!
Greifen wir zum nächstliegensten, dann sind wir auf dem richtigen Wege.
Die Haltung der Regierung ist es, die das Wunder bewirkte. In der
Tat, die Haltung der Regierung in den beiden wichtigsten den Reichstag
beschäftigenden Fragen, in der elsaß-lothringischen und in der Reichsversicherungs¬
frage, ist es gewesen, die das Aufleben des Reichstags bewirkte. Jeder liberal
denkende Mann, aber auch jeder Staatsmann, demi die Wohlfahrt des Reichs
aur Herzen liegt, wird sich des Ergebnisses freuen, denn die Volksvertretung
bildet einen wesentlichen Teil der Reichsregierung, und jede Diskreditierung und
öffentliche Herabsetzung dieses Teiles muß naturgemäß auch die Autorität des
anderen Teiles der Negierung, des exekutiven, schädigen. Freilich, auch hier geht
es ohne ein Aber nicht ab und gerade die Haltung der Regierung, die die Volks¬
vertretung mit neuen Kräften erfüllte, findet aus dem Parlamente heraus scharfe
Verurteilung. In der Presse aller Richtungen wird der Reichsregierung schwächliche
Nachgiebigkeit vorgeworfen, und der Abgeordnete Stresemann faßt die Gesamt¬
auffassung über die Regierung nur klar zusammen, wenn er in der Magdeburgischen


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[0486] Reichsspiegel Reichsspiegel Innere Politik Dor sterbende Reichstag — Die Haltung der Negierung — Herr von Bethmann und Fürst Swjatopoll-Mirsli — Parlamentarismus — Reichstagswnhlrecht für Preußen. Die Parlamente sind in die Ferien gegangen und besonders dem Reichstage werden in allen Zeitungen Zensuren geschrieben. Um Weihnachten herum haben wohl nur wenige Wähler daran geglaubt, daß ihr Sprößling noch Anerkennung finden könnte, und resigniert belegten sie den Siechen mit trostlosen Wort: der sterbende Reichstag. Nach Ostern indessen begann der Reichstag einige starke Lebensregungen von sich zu geben, und jetzt am Schluß des Arbeitsabschnitts muß von allen Seiten anerkannt werden, daß der Sterbende sich mächtig aufgerafft und recht beachtenswerte Arbeit geleistet hat. Wem dankt der Reichstag das neuerliche Aufblühen? Aus welcher Kraftquelle fließt ihm das Selbstbewußtsein und die neue Lust zu harter Arbeit? Sind neue Männer aufgetreten, haben neue Ideen die Köpfe erhellt? Nichts von alledem! Männer und Köpfe sind die alten! In den Reihen der Parlamentarier sind keine neuen Führer aufgestanden. In den Beziehungen der Parteien zueinander sind sichtbare Verschiebungen nicht eingetreten, wenigstens nicht zu einem Zeitpunkt, der der jüngsten Arbeit vorausgegangen wäre. Also eine innere Ursache für das Aufleben des Reichstags ist nirgends zu erkennen. Wir müssen somit suchen, ob nicht äußere Umstände in der angedeuteten Richtung gewirkt haben. Im Lande draußen unter den Wählermassen haben keinerlei Kundgebungen stattgefunden, die irgendwie die Arbeiten des Reichstags beeinflußt hätten. Alle Versammlungen und Resolutionen, die den Fraktionen des Reichstags aus dem Lande zu Leibe gingen, übermittelten eigentlich nur Sonderwünsche auf wirtschaftlichen: Gebiet, sei es der Handlungsgehilfen, sei es der Ärzte oder Handelskammern. Zu großen nationalpolitischen Kundgebungen hat man unter der Herrschaft der Jnteressenverbände im lieben Deutschland keine Kraft mehr! Greifen wir zum nächstliegensten, dann sind wir auf dem richtigen Wege. Die Haltung der Regierung ist es, die das Wunder bewirkte. In der Tat, die Haltung der Regierung in den beiden wichtigsten den Reichstag beschäftigenden Fragen, in der elsaß-lothringischen und in der Reichsversicherungs¬ frage, ist es gewesen, die das Aufleben des Reichstags bewirkte. Jeder liberal denkende Mann, aber auch jeder Staatsmann, demi die Wohlfahrt des Reichs aur Herzen liegt, wird sich des Ergebnisses freuen, denn die Volksvertretung bildet einen wesentlichen Teil der Reichsregierung, und jede Diskreditierung und öffentliche Herabsetzung dieses Teiles muß naturgemäß auch die Autorität des anderen Teiles der Negierung, des exekutiven, schädigen. Freilich, auch hier geht es ohne ein Aber nicht ab und gerade die Haltung der Regierung, die die Volks¬ vertretung mit neuen Kräften erfüllte, findet aus dem Parlamente heraus scharfe Verurteilung. In der Presse aller Richtungen wird der Reichsregierung schwächliche Nachgiebigkeit vorgeworfen, und der Abgeordnete Stresemann faßt die Gesamt¬ auffassung über die Regierung nur klar zusammen, wenn er in der Magdeburgischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/486>, abgerufen am 19.05.2024.