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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

zu entspannen strebt; im Zustande völliger
Entspannung angelangt, hat der Körper in
sich selbst keinen Antrieb, sich aufs neue
zu spannen; dieser Zustand ist also stabil:
die abgelaufene Uhr zieht sich nicht von selbst
auf, die auf der Grundflüche ruhende Pyramide
stellt sich nicht selbst auf die Kante (während
sie, von Menschenhand auf die Kante gestellt
und dann sich selbst überlassen, umkippt), der
ausgekühlte Ofen heizt sich nicht von selbst. Das
Eiweiß ist nun eine hochgespannte und darum
sehr labile Verbindung, die Wohl die Neigung
hat, zu zerfallen (und diewirklichzerfällt, sobald
der Tod das die Bestandteile in der Spannung
festhaltende unbekannte Etwas ausschaltet),
deren Bestandteile aber nicht die Neigung
haben können, von selbst eine solche Verbindung
einzugehen. Da hier die Energetik erwähnt
wurde, mag aus dem Weltanschauungsbuche
noch eine Probe davon mitgeteilt werden, wie
nicht allein die Gesamtheit des Wirklichen,
dieses Objekt der Wissenschaft, künstlerisch be¬
handelt, als Kosmos, als geordnetes Ganzes
geschaut und dargestellt werden kann, Sündern
wie dies auch für einzelne Gebiete der Wissen¬
schaft möglich ist. Kann die Energie selbst
noch durch ihre wissenschaftliche Definition
(Energie ist die Fähigkeit, mechanische Arbeit
zu leisten) der Anschauung nahe gebracht
werden, so ist das bei der Entropie, der Ent¬
wertung der Energie durch ihre Zerstreuung im
Weltraum, nicht möglich; deren Beschreibung
erfordert komplizierte mathematische Formeln,
Aber ein Vortrag über Energie und Entropie
(von F, Auerbach) ist überschrieben: "Die
Weltherrin und ihr Schatten"; das ist künst¬
lerisch geschaut und künstlerisch ausgedrückt.
Und, fügt Reinke hinzu, man kann die Sache
auch mit den Augen des Humoristen Wilhelm
Busch anschauen und in seinein Stile aus¬
sprechen: Die Magd für alles und ihre zer¬
brochenen Scherben.

Carl Zentsch
^iterntnrgeschichtliches

Eine Zeichnn,!". Clemens Brentanos.
Im "Hochland" (Novemberheft 1908) ver¬
öffentlichte Herr Justizrat v, Seelilie aus
seinem Besitz ein sehr interessantes "roman¬
tisches Dokument", nämlich eine Zeichnung
Clemens Brentanos an die ihm befreundete

[Spaltenumbruch]

Malerin Emilie Linder. Die große Zeichnung
enthält -- nach den Worten des Malers
Edward von Seelilie -- "so viel Geschmack¬
loses und Barockes als nur möglich, und
dennoch ist sie wie die Erfindung eines
phantasievollen und ungezogenen Kindes".
Das Irrteil ist gewiß zu scharf, aber Brentano
hat die Zeichnung wirklich so überladen mit
geheimnisvollen undsymbolischenAnsPielungen,
daß eine völlige und sichere Deutung aus¬
geschlossen ist. Im allgemeinen kann man
sich den im "Hochland" gegebenen Erklärungs¬
versuchen wohl anschließen, in einem Punkte
aber hat sich der Herausgeber bestimmt
geirrt. Er schreibt nämlich: "Ganz oben
rechts am Wege auf dem Felsen blüht ein
.Schneeglöckchen', von einem Genius geläutet:
die Jugenddichtnng gleichen Namens, von
welcher es scheinbar kein Exemplar mehr
gibt", und später: "Die Zeichnung ist ferner
durch den Play, welchen der Dichter dein
.Schneeglöckchen' unweise, ein dokumentarischer
Beweis dafür, daß er diese Dichtung nicht
zu denjenigen zählt, welche er nach seiner
Ansicht zu bereuen Ursache hätte".

Nun hat aber Brentano, wie man deutlich
sehen kann, kein Schneeglöckchen (das doch nur
eine Glocke hat), sondern eine Maiblume oder
eine Glockenblume gezeichnet. Zudem konnte der
Dichter auch nicht anspielen auf sein angebliches
Jugendwerk "Schneeglöckchen"; denn das mit
diesem Titel unter dem Pseudonym "Maria"
in der Heroldschen Buchhandlung zu Hamburg
erschienene Buch ist nicht von ihm verfaßt,
sondern von Maria v. Plessen, geb. Fick.
Darauf wies bereits Goedeke in der ersten
Auflage seines "Grundrisses zur Geschichte
der deutschen Dichtung" hin. Nur seine
ersten Schriften hat Brentano unter den:
Namen "Maria" veröffentlicht.

Bei Dick-Kreiten (Clemens Brentano.
Ein Lebensbild. Freiburg i. B. 1877/78.
Band 2, S. MI) werden die "Schnee¬
glöckchen" noch als ein Werk Brentanos
aufgeführt; es wird dabei die Vermutung
ausgesprochen, dus Büchlein sei "vom Dichter
wieder aufgekauft" worden. Gänzlich ist das
Buch aber nicht verschollen, denn ich habe
ein Exemplar (vielleicht das einzige "och
existierende) aufgefunden, und zwar in der
Großherzoglichen Regierungs-Bibliothek zu

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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zu entspannen strebt; im Zustande völliger
Entspannung angelangt, hat der Körper in
sich selbst keinen Antrieb, sich aufs neue
zu spannen; dieser Zustand ist also stabil:
die abgelaufene Uhr zieht sich nicht von selbst
auf, die auf der Grundflüche ruhende Pyramide
stellt sich nicht selbst auf die Kante (während
sie, von Menschenhand auf die Kante gestellt
und dann sich selbst überlassen, umkippt), der
ausgekühlte Ofen heizt sich nicht von selbst. Das
Eiweiß ist nun eine hochgespannte und darum
sehr labile Verbindung, die Wohl die Neigung
hat, zu zerfallen (und diewirklichzerfällt, sobald
der Tod das die Bestandteile in der Spannung
festhaltende unbekannte Etwas ausschaltet),
deren Bestandteile aber nicht die Neigung
haben können, von selbst eine solche Verbindung
einzugehen. Da hier die Energetik erwähnt
wurde, mag aus dem Weltanschauungsbuche
noch eine Probe davon mitgeteilt werden, wie
nicht allein die Gesamtheit des Wirklichen,
dieses Objekt der Wissenschaft, künstlerisch be¬
handelt, als Kosmos, als geordnetes Ganzes
geschaut und dargestellt werden kann, Sündern
wie dies auch für einzelne Gebiete der Wissen¬
schaft möglich ist. Kann die Energie selbst
noch durch ihre wissenschaftliche Definition
(Energie ist die Fähigkeit, mechanische Arbeit
zu leisten) der Anschauung nahe gebracht
werden, so ist das bei der Entropie, der Ent¬
wertung der Energie durch ihre Zerstreuung im
Weltraum, nicht möglich; deren Beschreibung
erfordert komplizierte mathematische Formeln,
Aber ein Vortrag über Energie und Entropie
(von F, Auerbach) ist überschrieben: „Die
Weltherrin und ihr Schatten"; das ist künst¬
lerisch geschaut und künstlerisch ausgedrückt.
Und, fügt Reinke hinzu, man kann die Sache
auch mit den Augen des Humoristen Wilhelm
Busch anschauen und in seinein Stile aus¬
sprechen: Die Magd für alles und ihre zer¬
brochenen Scherben.

Carl Zentsch
^iterntnrgeschichtliches

Eine Zeichnn,!». Clemens Brentanos.
Im „Hochland" (Novemberheft 1908) ver¬
öffentlichte Herr Justizrat v, Seelilie aus
seinem Besitz ein sehr interessantes „roman¬
tisches Dokument", nämlich eine Zeichnung
Clemens Brentanos an die ihm befreundete

[Spaltenumbruch]

Malerin Emilie Linder. Die große Zeichnung
enthält — nach den Worten des Malers
Edward von Seelilie — „so viel Geschmack¬
loses und Barockes als nur möglich, und
dennoch ist sie wie die Erfindung eines
phantasievollen und ungezogenen Kindes".
Das Irrteil ist gewiß zu scharf, aber Brentano
hat die Zeichnung wirklich so überladen mit
geheimnisvollen undsymbolischenAnsPielungen,
daß eine völlige und sichere Deutung aus¬
geschlossen ist. Im allgemeinen kann man
sich den im „Hochland" gegebenen Erklärungs¬
versuchen wohl anschließen, in einem Punkte
aber hat sich der Herausgeber bestimmt
geirrt. Er schreibt nämlich: „Ganz oben
rechts am Wege auf dem Felsen blüht ein
.Schneeglöckchen', von einem Genius geläutet:
die Jugenddichtnng gleichen Namens, von
welcher es scheinbar kein Exemplar mehr
gibt", und später: „Die Zeichnung ist ferner
durch den Play, welchen der Dichter dein
.Schneeglöckchen' unweise, ein dokumentarischer
Beweis dafür, daß er diese Dichtung nicht
zu denjenigen zählt, welche er nach seiner
Ansicht zu bereuen Ursache hätte".

Nun hat aber Brentano, wie man deutlich
sehen kann, kein Schneeglöckchen (das doch nur
eine Glocke hat), sondern eine Maiblume oder
eine Glockenblume gezeichnet. Zudem konnte der
Dichter auch nicht anspielen auf sein angebliches
Jugendwerk „Schneeglöckchen"; denn das mit
diesem Titel unter dem Pseudonym „Maria"
in der Heroldschen Buchhandlung zu Hamburg
erschienene Buch ist nicht von ihm verfaßt,
sondern von Maria v. Plessen, geb. Fick.
Darauf wies bereits Goedeke in der ersten
Auflage seines „Grundrisses zur Geschichte
der deutschen Dichtung" hin. Nur seine
ersten Schriften hat Brentano unter den:
Namen „Maria" veröffentlicht.

Bei Dick-Kreiten (Clemens Brentano.
Ein Lebensbild. Freiburg i. B. 1877/78.
Band 2, S. MI) werden die „Schnee¬
glöckchen" noch als ein Werk Brentanos
aufgeführt; es wird dabei die Vermutung
ausgesprochen, dus Büchlein sei „vom Dichter
wieder aufgekauft" worden. Gänzlich ist das
Buch aber nicht verschollen, denn ich habe
ein Exemplar (vielleicht das einzige »och
existierende) aufgefunden, und zwar in der
Großherzoglichen Regierungs-Bibliothek zu

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[0543] Maßgebliches und Unmaßgebliches zu entspannen strebt; im Zustande völliger Entspannung angelangt, hat der Körper in sich selbst keinen Antrieb, sich aufs neue zu spannen; dieser Zustand ist also stabil: die abgelaufene Uhr zieht sich nicht von selbst auf, die auf der Grundflüche ruhende Pyramide stellt sich nicht selbst auf die Kante (während sie, von Menschenhand auf die Kante gestellt und dann sich selbst überlassen, umkippt), der ausgekühlte Ofen heizt sich nicht von selbst. Das Eiweiß ist nun eine hochgespannte und darum sehr labile Verbindung, die Wohl die Neigung hat, zu zerfallen (und diewirklichzerfällt, sobald der Tod das die Bestandteile in der Spannung festhaltende unbekannte Etwas ausschaltet), deren Bestandteile aber nicht die Neigung haben können, von selbst eine solche Verbindung einzugehen. Da hier die Energetik erwähnt wurde, mag aus dem Weltanschauungsbuche noch eine Probe davon mitgeteilt werden, wie nicht allein die Gesamtheit des Wirklichen, dieses Objekt der Wissenschaft, künstlerisch be¬ handelt, als Kosmos, als geordnetes Ganzes geschaut und dargestellt werden kann, Sündern wie dies auch für einzelne Gebiete der Wissen¬ schaft möglich ist. Kann die Energie selbst noch durch ihre wissenschaftliche Definition (Energie ist die Fähigkeit, mechanische Arbeit zu leisten) der Anschauung nahe gebracht werden, so ist das bei der Entropie, der Ent¬ wertung der Energie durch ihre Zerstreuung im Weltraum, nicht möglich; deren Beschreibung erfordert komplizierte mathematische Formeln, Aber ein Vortrag über Energie und Entropie (von F, Auerbach) ist überschrieben: „Die Weltherrin und ihr Schatten"; das ist künst¬ lerisch geschaut und künstlerisch ausgedrückt. Und, fügt Reinke hinzu, man kann die Sache auch mit den Augen des Humoristen Wilhelm Busch anschauen und in seinein Stile aus¬ sprechen: Die Magd für alles und ihre zer¬ brochenen Scherben. Carl Zentsch ^iterntnrgeschichtliches Eine Zeichnn,!». Clemens Brentanos. Im „Hochland" (Novemberheft 1908) ver¬ öffentlichte Herr Justizrat v, Seelilie aus seinem Besitz ein sehr interessantes „roman¬ tisches Dokument", nämlich eine Zeichnung Clemens Brentanos an die ihm befreundete Malerin Emilie Linder. Die große Zeichnung enthält — nach den Worten des Malers Edward von Seelilie — „so viel Geschmack¬ loses und Barockes als nur möglich, und dennoch ist sie wie die Erfindung eines phantasievollen und ungezogenen Kindes". Das Irrteil ist gewiß zu scharf, aber Brentano hat die Zeichnung wirklich so überladen mit geheimnisvollen undsymbolischenAnsPielungen, daß eine völlige und sichere Deutung aus¬ geschlossen ist. Im allgemeinen kann man sich den im „Hochland" gegebenen Erklärungs¬ versuchen wohl anschließen, in einem Punkte aber hat sich der Herausgeber bestimmt geirrt. Er schreibt nämlich: „Ganz oben rechts am Wege auf dem Felsen blüht ein .Schneeglöckchen', von einem Genius geläutet: die Jugenddichtnng gleichen Namens, von welcher es scheinbar kein Exemplar mehr gibt", und später: „Die Zeichnung ist ferner durch den Play, welchen der Dichter dein .Schneeglöckchen' unweise, ein dokumentarischer Beweis dafür, daß er diese Dichtung nicht zu denjenigen zählt, welche er nach seiner Ansicht zu bereuen Ursache hätte". Nun hat aber Brentano, wie man deutlich sehen kann, kein Schneeglöckchen (das doch nur eine Glocke hat), sondern eine Maiblume oder eine Glockenblume gezeichnet. Zudem konnte der Dichter auch nicht anspielen auf sein angebliches Jugendwerk „Schneeglöckchen"; denn das mit diesem Titel unter dem Pseudonym „Maria" in der Heroldschen Buchhandlung zu Hamburg erschienene Buch ist nicht von ihm verfaßt, sondern von Maria v. Plessen, geb. Fick. Darauf wies bereits Goedeke in der ersten Auflage seines „Grundrisses zur Geschichte der deutschen Dichtung" hin. Nur seine ersten Schriften hat Brentano unter den: Namen „Maria" veröffentlicht. Bei Dick-Kreiten (Clemens Brentano. Ein Lebensbild. Freiburg i. B. 1877/78. Band 2, S. MI) werden die „Schnee¬ glöckchen" noch als ein Werk Brentanos aufgeführt; es wird dabei die Vermutung ausgesprochen, dus Büchlein sei „vom Dichter wieder aufgekauft" worden. Gänzlich ist das Buch aber nicht verschollen, denn ich habe ein Exemplar (vielleicht das einzige »och existierende) aufgefunden, und zwar in der Großherzoglichen Regierungs-Bibliothek zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/543>, abgerufen am 26.05.2024.